Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)
aus Kübeln hineinfiel. So konnte es nicht weitergehen. Adelheid fürchtete das Schlimmste für Anna. Zu oft in den letzten Wochen hatte sie mit ansehen müssen, dass die Plage auf diese Art ihren Anfang nahm. Anna würde sterben. Doch das sollte nicht hier in diesem feuchten Wald geschehen.
Schon seit Stunden hielt sie nun den Kopf des Mädchens, welches ihr bis vor Kurzem noch so feindlich gesonnen war, und streichelte ihr dunkles, schweißnasses Haar. Es war Adelheid gleich, ob der Hauch, von dem es hieß, er könne von einem kranken auf einen gesunden Menschen übergehen, zu ihr herüberwehte. In diesem Moment glaubte sie nicht, noch sehr viel mehr verlieren zu können, als sie eh schon eingebüßt hatte: Ihr Bruder Friedrich war an dem grassierenden Elend gestorben, ebenso ein großer Teil der Leute, denen Adelheid und Elisabeth sich angeschlossen hatten. Johann– um den der Großteil von Adelheids Gedanken kreiste– war verschwunden, ebenso der Ritterbruder Konrad und auch Marie. Und dann war da noch die Sorge um Elisabeth. Adelheid konnte sich nicht vorstellen, dass sich die Freundin, wie Regino es ihr hatte weismachen wollen, freiwillig zu ihrem Oheim hatte bringen lassen. Was war tatsächlich mit Elisabeth geschehen? Wahrscheinlich war sie längst verloren, so wie Maja und Ulrich, die der wütende Mob in den Wald geführt hatte. Gnadenlos war sicherlich das Gericht über die beiden ausgefallen.
Tränen besaß Adelheid keine mehr, aber ihr Glaube, vor allem der an die hilfreiche Hand der Gottesmutter Maria, war ungebrochen. Sie hob den Kopf und blickte durch das spitze, kegelförmige Dach der Köhlerhütte in den Himmel. Durch das Rauchloch fiel ihr der Regen ins Gesicht, doch das störte sie nicht. Unverwandt schaute sie nach oben und begann zu beten:
» Hilf Maria, rette uns vor Pein und Tod!
Ach, neige, du Schmerzensreiche,
dein Antlitz gnädig unserer Not! «
Immer wieder wiederholte sie diesen einen Satz, der ihr soeben erst in den Sinn gekommen war, und der sich regelrecht in ihre Seele einbrannte. Lauter und lauter sprach sie, verfiel sogar in eine Art Wahnzustand, wie man ihn von den Mystikerinnen kannte, über welche sich Elisabeth so gern lustig gemacht hatte. Dann, nach langer, langer Zeit– es mochten Stunden gewesen sein, vielleicht waren es aber auch nur einige Augenblicke, Adelheid wusste es nicht zu sagen–, hörte der Regen auf. Abrupt brach er ab, ein Wind kam auf, vertrieb die Wolken und machte der Sommersonne Platz, die mit einem Male durch die grünen Blätter des Waldes einen einzigen Strahl unmittelbar durch das Rauchloch der Köhlerhütte warf und Adelheids Gesicht zugleich erhellte, wärmte und trocknete.
Es war ein Zeichen.
Ein Zeichen zum Aufbruch.
Sie musste handeln. Sie musste einen Weg finden. Sie musste Hilfe holen.
Sanft bettete sie die schlafende Anna auf der feuchten Moosunterlage und bedeckte sie mit allem, was Adelheid an eigenen Kleidungsstücken entbehren konnte. Nur mehr in ein weißes, feines Wollhemd gekleidet, lief sie dann rasch in den jetzt sonnigen Wald hinaus. Sie versuchte sich den Weg zu merken, um die Köhlerhütte alsbald wiederfinden zu können. Und tatsächlich: Keine fünfhundert Schritte entfernt erreichte sie einen breiten, von Wagenrädern ausgefahrenen Weg. Er führte bergan und war so gerade, dass er, sah man an ihm entlang, den Blick auf eine Burg freigab.
Adelheid atmete auf.
Dorthin würde sie nun gehen. Das war genau der richtige Ort. Ein ihr zwar fremder, aber dennoch vertrauter Platz. Sie hatte bislang keine Bauerndörfer, Köhlerhütten, Aschenbrennersiedlungen, wilde Wälder, tiefe Schluchten, dunkle Höhlen und stinkende enge Stadtquartiere gekannt. All das war ihr in den letzten Wochen zum ersten Male in ihrem Leben begegnet. Was sie jedoch seit frühester Kindheit kannte, waren Adelssitze, und einen solchen würde sie nun um Hilfe bittend aufsuchen. Wahrscheinlich würde man dort der verwahrlosten, jungen Frau ihre Herkunft nicht glauben. Und selbst wenn es ihr gelingen sollte, die hiesigen Herren davon zu überzeugen, dass sie es mit der in Not geratenen Tochter eines Grafen zu tun hatten, dann würden sie Adelheid gewiss zurück zu ihrer Familie und damit in die Arme ihres unerträglichen Bräutigams schicken. Doch das war ihr in diesem Moment gleich. Denn das alles war besser als der Tod.
Eilig machte sie sich also auf, sie wollte den trutzigen Bau möglichst bald erreichen, um noch vor Sonnenuntergang die kranke Anna aus
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