Die Formel der Macht
vielleicht auf der Ladefläche eines Trucks? Nein, das war nicht möglich. Sie spürte keinen Luftzug an ihrem Körper, und wenn man eine Plane über sie gebreitet hätte, würde sie das Gewicht spüren. Wo also war sie? Vielleicht in einem Bus, aber wahrscheinlicher noch im Frachtraum eines Vans.
Unter Aufbietung all ihrer Willenskraft schaffte sie es schließlich, sich aufzusetzen und in ihrem Gefängnis herumzutasten. Sie spürte, dass noch andere Menschen mit ihr an Bord des Fahrzeugs waren. Tatsächlich konnte sie, wenn sie den Atem anhielt und angestrengt lauschte, das Rascheln ihrer Bewegungen hören. Daraus schloss sie, dass sie sich möglicherweise in dem ausgepolsterten Frachtraum eines Lieferwagens befand.
Damit wollten ihre Entführer wahrscheinlich verhindern, dass sie sich ernsthaft verletzte, auch wenn man sich durchaus nicht scheute, ihr Schmerzen und seelische Qualen zuzufügen, indem man sie betäubte und hungern und dursten ließ. Vielleicht war ihr lädierter Verstand ja nicht in der Lage, alles richtig einzuordnen, doch irgendwie kam Summer dieses widersprüchliche Verhalten seltsam vor. Aber wahrscheinlich brauchte man sie einfach nur lebendig, um das Lösegeld zu bekommen, und was in der Zwischenzeit mit ihr passierte, war ihnen herzlich egal.
Der Van hielt kurz an – vielleicht an einer Verkehrsampel –, dann fuhr er weiter. Summer hörte den Verkehr rauschen, was bedeutete, dass sie sich auf einer viel befahrenen Straße befanden. Noch ein ausgesprochen nützlicher Hinweis, dachte sie mit grimmigem Spott. Jetzt hatte sie die Suche nach ihrem Gefängnis von zwanzig Millionen Gebäuden landesweit auf die annähernd neunzehn Millionen Apartmentkomplexe eingegrenzt, die an viel befahrenen Straßen standen.
Gott, war sie durstig. Es war schwer, sich auf irgendetwas zu konzentrieren, wenn man so durstig war. Summer fantasierte von Gläsern mit Eiswasser – riesigen Gläsern, elefantengroßen Wassereimern –, dann wünschte sie sich sehnlichst, sie hätte sich nicht gestattet, daran zu denken. Ihr leerer Magen war so damit beschäftigt, vor Übelkeit zu rumoren, dass sie ihren Hunger nicht spürte, aber ihr Durst war schon längst nicht mehr nur unangenehm, sondern schlicht unerträglich. Nur, dass er nicht unerträglich war, denn schließlich ertrug sie ihn ja.
Sie sollte ihre begrenzte Energie besser nicht mit Spitzfindigkeiten vergeuden. Sie musste etwas
tun
, das war es, was sie brauchte, um sich abzulenken. Summer ließ sich zurücksinken, zog die Knie an und versuchte, ihren Oberkörper aufzurichten, um ihre Muskeln zu trainieren. Ihr ganzer Körper schmerzte, aber ihre Handgelenke taten am meisten weh. Ihre Schultern fühlten sich überdehnt an, weil man ihr die Arme schon so lange auf den Rücken gefesselt hatte, und ihre Oberkörpermuskulatur war so verspannt, dass Summer bei jeder erzwungenen Bewegung laut hätte aufschreien mögen.
Nach einer Weile fürchtete sie, sich übergeben zu müssen, wenn sie ihre gymnastischen Übungen fortsetzte, deshalb blieb sie, unter ihrer Kapuze in die Dunkelheit starrend, liegen und wartete darauf, dass ihr Magen sich wieder beruhigte. An die Stelle der Apathie und des Selbstmitleids trat nach und nach eine unbändige Wut. Verflucht noch mal, warum versuchte sie eigentlich nicht, diesen Halunken das Leben so schwer wie möglich zu machen? Es sprach nichts dagegen, mit ihren Entführern zu kooperieren, in der Hoffnung, auf diese Weise lange genug am Leben zu bleiben, bis das FBI sie fand, aber diese Rechnung schien nicht aufzugehen. Und wenn zu den Qualen, die sie erdulden musste, auch noch demütige Unterwürfigkeit kam, war dieser Preis einfach zu hoch. Zeit, auf Plan B umzuschalten, entschied sie.
“Ich will etwas trinken”, sagte sie aufmüpfig. Oder versuchte es zumindest. Ihre Kehle war so ausgedörrt, dass sie nicht wusste, ob sie es geschafft hatte, auch nur ein einziges verständliches Wort herauszubringen. Natürlich bekam sie keine Antwort.
Dass man sie mit vorsätzlicher Nichtbeachtung strafte, brachte sie zur Weißglut. Es war wirklich jämmerlich, dass sie sich erlaubt hatte, so schwach zu werden, dass sie nicht einmal mehr schreien konnte, um ihre Peiniger zu ärgern. Sie richtete sich mühsam wieder auf und versuchte, sich die Ladefläche eines Dodge Caravan vorzustellen, der einzige Minivan, in dem sie je gefahren war. Der harte Widerstand rechts und links neben ihr mussten die Tür und die Hinterseite der Rückbank sein. Die
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