Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
einem kniehohen Podium stand. Das gab
ihm nicht nur die Möglichkeit, den gesamten Verkaufsraum mit einem Blick zu übersehen, es hob auch seine persönliche Bedeutung
hervor. Raoul Paquin hatte genau gewusst, was er tat, als er ihm dort seinen Arbeitsplatz zuwies. Sigmund Schlesinger war,
wie die meisten klein gewachsenen Männer, eifersüchtig darauf bedacht, dass man seinen sozialen Rang respektierte, und genoss
es, so sichtbar über alle anderen erhöht zu sein.
»Ich bin froh, dass Sie wieder da sind. Es musste sich ja alles als ein Irrtum herausstellen. Ich habe keinen Augenblicklang gedacht …« Er räusperte sich, dann stellte er die Frage, die ihm das Herz schwer machte. »Wie wird es denn jetzt mit der Apotheke
weitergehen?«
Louise zuckte bekümmert die Achseln. »Sie kennen doch die Gesetze. Es gibt seit zwei Jahren keine Realkonzession mehr, nur
noch eine Personalkonzession. Ohne Konzession können wir nicht arbeiten. Es sei denn, Sie bewerben sich darum. Sie können
doch geltend machen, dass Sie sechs Jahre lang erfolgreich den Betrieb geführt haben.«
Ein tiefer Atemzug verriet, wie viel ihm dieses Lob bedeutete, aber seine Stimme klang bedrückt. »Ich fürchte, es geht hier
nicht allein um Tüchtigkeit. Eine Apotheke am Jungfernstieg – das ist eine Goldgrube. Viele Bewerber werden danach drängen,
die Konzession zu erhalten. Wahrscheinlich ist sie inzwischen schon neu vergeben.«
»Sie sollten trotzdem eine Bewerbung einreichen.« In herzlichem Ton fügte sie hinzu: »Ich wäre froh, wenn Sie hierblieben.
Mir wäre kein anderer lieber als Sie.«
Er antwortete leise: »Ich habe Herrn Paquin viel zu verdanken.« Sigmund Schlesinger würde nie vergessen, dass Raoul ihn zu
einer Zeit angestellt hatte, als eine Welle antisemitischer Stimmung über Hamburg hinwegschwappte. Das war damals während
der schrecklichen Epidemie gewesen, als alle Welt den russischen und polnischen Juden die Schuld an der Seuche gab, weil diese
in den Eppendorfer Auswandererbaracken ausgebrochen war.
Er stand auf, offensichtlich verlegen darüber, dass er etwas geäußert hatte, was in seinen Augen schon einem Gefühlsausbruch
nahekam. »Wenn Sie erlauben, möchte ich den Abend gerne dazu nutzen, die Buchhaltung auf den neuesten Stand zu bringen. Oh,
und da ist noch eine Kleinigkeit, Frau Paquin.Sie haben nicht zufällig einen Schlüssel für Herrn Paquins persönlichen Tresor?«
»Nein.«
»Herr Hansen hat nämlich auch keinen, und Herrn Paquins Schlüssel ist unauffindbar. Aber wir sollten ihn öffnen, denn es könnte
sein, dass sich noch wichtige Papiere darin befinden.«
»Ich werde sehen, ob ich ihn finde«, versprach sie. »Gute Nacht.«
5
Unbekümmert darum, dass die gute Sitte vornehmen jungen Damen verbot, nach Einbruch der Dunkelheit unbehütet auf den Straßen
unterwegs zu sein, trat Lady Amy Harrington aus dem Tor des Löwenhauses und machte sich auf den kurzen Heimweg zur Residenz
des Botschafters an der Ecke Jungfernstieg /Gänsemarkt.
Die außergewöhnliche junge Dame wurde in Amerika als Tochter des britischen Gesandten geboren. Ihre Mutter verstarb noch im
Wochenbett, und Amy blieb das einzige Kind des Paares. Von da an begleitete sie ihren Vater auf Schritt und Tritt rund um
die Welt. Lord Harrington wollte seine Tochter – das Einzige, was ihm von seiner geliebten Frau geblieben war – keine Sekunde
missen und entschied schon früh, dass sie ihn auf allen Reisen begleiten sollte. Sie bekam neben einer Amme, die später die
Funktion einer Gouvernante erfüllen sollte, einen Privatlehrer zur Seite gestellt. Ansonsten hattesie ihren Vater, der ihr Spielgefährte, Freund und Lehrer in einem war. Es kam selten vor, dass eine junge Frau einen so verständnisvollen
und liebenden Vater hatte. Umso seltsamer schien es, dass Lady Amy Männern mit Widerwillen, ja Abscheu begegnete.
Gebildeter und welterfahrener als die meisten Frauen ihres Standes, war sie eine höchst widersprüchliche Persönlichkeit. Sie
besaß ein scharfsinniges Verständnis für die Nöte der Frauen und hegte den aufrichtigen Wunsch, ihnen zu helfen, genoss es
jedoch wie ein aufsässiges Kind, konservative Bürger mit ihren rebellischen Ansichten vor den Kopf zu stoßen. Sie hasste ihr
hübsches Gesicht, weil ihr nichts mehr zuwider war, als für ein Püppchen gehalten zu werden, und gab sich große Mühe, streng
und ernst zu wirken, was ihr freilich nicht immer
Weitere Kostenlose Bücher