Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
gelang.
Bei ihren ersten Bemühungen, den unterdrückten und betrogenen Frauen zu ihrem Recht zu verhelfen, hatte sie feststellen müssen,
dass Arbeiterinnen und Dienstboten sie nicht ernst nahmen und sich lieber an die Sozialdemokratinnen hielten. Enttäuscht hatte
sie sich ihrer eigenen Gesellschaftsschicht zugewandt und entdeckt, dass es auch unter den wohlhabenden und nach außen hin
verwöhnten Frauen nicht wenige Hilfsbedürftige gab – so wie jetzt die Witwe des Apothekers.
Keinen Augenblick hatte Amy darüber nachgedacht, ob die Witwe nicht vielleicht doch schuldig sein mochte. Sie war konsequent
auf Seiten der Frauen. Als leidenschaftliche Frauenrechtlerin nahm sie nur ungern zur Kenntnis, dass blutjunge Frauen begüterter
und bejahrter Männer durchaus Harpyien sein konnten, die ihren Opfern die Leber aus dem Leib fraßen. Offenbar wurde die Witwe
Paquin zu Unrechtbeschuldigt und brauchte jemanden, der sie verteidigte, denn die Männer in ihrem Umfeld würden das wohl kaum tun. Im Gegenteil,
bei erster Gelegenheit würden diese Geier über sie herfallen und ihr die Knochen blank picken!
Amy war sehr zufrieden mit der eindrucksvollen Szene, die sie auf der Bühne eines schäbigen Amtszimmers vor einem feisten,
müde aussehenden Polizeirat namens Wilhelm Heidegast gespielt hatte, als er sie fragte, ob sie eine Aussage in Sachen Paquin
machen wolle.
»Nein, keine Aussage. Ich bin gekommen, um die sofortige Freilassung der Witwe Paquin zu verlangen.«
»Ach. Darf ich erst einmal fragen, in welchem Verhältnis Sie zu der Dame stehen? Sind Sie eine Verwandte oder …«
Amy blickte ihn herausfordernd an. »Sie ist meine Schwester.«
Er sah überrascht aus. »Von einer Schwester war bislang nicht die Rede. Lassen Sie mich in den Akten nachsehen …«
»Das ist nicht nötig. Sie ist meine Schwester in dem Sinne, in dem alle Frauen meine Schwestern sind, vor allem jene, die
unter der Willkür und Grausamkeit der Männer zu leiden haben.« Amy musterte ihn ingrimmig, fest überzeugt, dass sie einem
Unhold gegenübersaß, der hilflose junge Frauen in finstere Kerker werfen ließ. Ihre Unterlippe zitterte vor Empörung.
»Ich bin fassungslos!«, erklärte sie ihm. Ihr Ton war schneidend, ihr rundes Kinn angriffslustig nach vorne gereckt. Die grauen
Augen blitzten. »Sie verhaften eine Dame – eine ehrbare, unbescholtene Dame – auf albernes Dienstbotengeschwätz hin, werfen
sie mit dem Abschaum der Straße, mit Dirnen und Diebinnen zusammen in ein schmutziges Gefängnis …«
Der alte Bonze besaß die Frechheit, ihr zu widersprechen.
»Liebe Lady Harrington, es wurde ärztlicherseits festgestellt, dass Frau Paquins Gatte sich das Leben nahm, weil er über einen
längeren Zeitraum hinweg vergiftet worden war, und in solchen Fällen ist der Verdacht zumeist nicht unbegründet, dass die
Ehefrau die Hand im Spiel gehabt haben könnte.«
Nun, das war typisch für Männer! Erst wurde ein so armes Geschöpf in der Ehe ausgebeutet, unterdrückt und geplagt, und wenn
der Ehemann dann starb, wollte man ihr auch noch die Schuld dafür zuschieben!
»Geschwätz!«, unterbrach ihn Amy also wütend. »Dummes und geschmackloses Küchengeschwätz! Ich verstehe wirklich nicht, warum
Sie als Vertreter der Behörde solche Narreteien nachplappern! Das nennen Sie wohl eine kriminalpolizeiliche Untersuchung,
ja? Sonst spielen Sie den Verfechter von Zucht und Ordnung, und dann stecken Sie mit Küchenmägden und Putzfrauen die Köpfe
zusammen?«
Ha! Darauf hatte er nichts mehr zu sagen gewusst! Dr. Taffert, der sie zu dem offiziellen Termin begleitet hatte, hatte danach gar nicht mehr viel zu tun gehabt, als die Formalitäten
zu erledigen. Im Grunde waren alle Männer feige, man musste ihnen nur die Rute ins Fenster stellen, dann duckten sie sich
schon.
In Gedanken ihren Triumph auskostend, merkte sie nicht, dass ein Mann die Stufen zum Hauseingang heraufeilte, und um ein Haar
wären die beiden zusammengestoßen. Im Licht der Laternen, die zu beiden Seiten des Portals brannten, inmitten der dünnen grauen
Nebelschleier, die vom Wasser heraufzogen, sah Amy sich einem hageren jungen Mann im Tweedanzug und Kutschermantel gegenüber,
der offensichtlich zum Haus gehörte, da er einen Schlüsselbund in der Hand trug.
Sie musterte ihn kurz und argwöhnisch. Er war kein schöner, aber ein ungemein anziehender Mann. Hochgewachsenund eckig, mit scharf ausgeprägten, knochigen
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