Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
man sie an die Wand gelehnt, und sie blickte
im Vorüberhasten in den Raum. Würde sie ein Gespenst sehen? Würde Raoul sie mit einer Erscheinung dafür strafen, dass sie
an seinem Sterbetag schon mit einem anderen Mann schlief? Alle Ammenmärchen, die sie je gehört hatte, fielen ihr ein. Sie
hätte beinahe aufgeschrien, als ihre eigene Gestalt weiß und verschwommen in dem verschmierten Spiegel aufleuchtete.
Den Kopf gesenkt, die Arme um den Leib geklammert, eilte sie weiter, verschwand in dem Kämmerchen. Darin gab es kein Licht,
nur eine Kerze, die in einem Halter auf der Waschkommode stand. Louise zündete sie mit zitternden Händen an. Sie hasste das
flackernde Licht, das ihren eigenen Schatten seltsam verzerrt an die Wände malte. Und war da nicht noch ein anderer Schatten?
Hatte sich etwas Unsichtbares von dem Ermordeten, der ein Stockwerk unter ihr aufgebahrt lag, gelöst und war ihr gefolgt,
eifersüchtig, rachsüchtig?
Sie konnte es noch gar nicht fassen, dass sie Witwe war. In ihrem Alter! Andere waren da noch nicht einmal verheiratet. Was
würde in den nächsten Wochen auf sie zukommen? Raoul war es gewesen, der ihrem Leben eine Richtung gegeben hatte. Wer würde
das in Zukunft tun? Zunächst musste sie die Führung in dem großen Stadthaus und, ja, einstweilen auch in der Apotheke, übernehmen.
Schließlich war sie die nächste Verwandte des Verstorbenen, und bis zur Eröffnung des Testaments nach der Trauerfeier musste
sich schließlich jemand um den Haushalt und das Geschäft kümmern. Aber wie sollte sie das bloß tun? Die Hausangestellten hatten
noch nie besonders viel Respekt vor ihr gehabt. Louise, das Waisenkind, das sich durch ihre Heirat in den großbürgerlichen
Haushalt am Jungfernstieg eingeschlichen hatte – das war die Meinung, die sie von dem schönen Mädchen hatten. Zwar hatte sich
Raoul immer auf ihre Seite gestellt und dem Personal von Beginn an klargemacht, dass mit Konsequenzen zu rechnen habe, wer
sich der jungen Frau gegenüber nicht angemessen verhalte. Doch was hatten die Dienstmädchen, die Köchin und die anderen Hausangestellten
jetzt noch zu befürchten?
Die Schrecken des Tages hatten ihre Eingeweide verkrampft,sodass sie erbärmlich lange sitzen bleiben musste. Die Angst, wieder ins Gefängnis zu müssen, ließ sie nicht los. Sie hatte
ja nur gehen dürfen, weil es keine Beweise für ihre Schuld gab. Aber ihre Unschuld konnte auch nicht bewiesen werden, und
sie würde keine Ruhe finden, ehe sie nicht in aller Form freigesprochen war. Bis dahin würde das Damoklesschwert einer neuerlichen
Verhaftung über ihrem Haupt schweben.
Sie stellte die Kerze vor sich auf den Boden, um sich über der kleinen Flammen wenigstens die Hände zu wärmen, und dabei fiel
ihr der rote Papierfetzen auf, der unter dem Waschtisch hervorlugte. Sie griff danach und betrachtete ihn im Licht. Es war
karminrotes Wachspapier, in das man gewöhnlich Zäpfchen einwickelte, aber entgegen allem Brauch und allen Vorschriften trug
es keinerlei Aufdruck, der den Inhalt verriet.
Louise wusste trotzdem Bescheid. Gelegentlich hatte Raoul Paquin seiner wissbegierigen Frau Einblick in die zwielichtigen
und verbrecherischen Bereiche der Arzneimittelkunde gewährt, hatte ihr vom Treiben der Scharlatane, Kurpfuscher und Engelmacher
erzählt. Zäpfchen, deren Zweck nicht auf den ersten Blick ersichtlich wurde, waren zumeist Abtreibemittel. Oder zumindest
Mittel, die, unmittelbar vor dem Ereignis angewandt, dessen mögliche Folgen verhüten sollten.
Während Louise darüber nachdachte, fiel ihr ein, dass Frederick ebenso fruchtbar wie stark sein mochte und sie möglicherweise
geschwängert hatte. Der Gedanke, ein Kind zu bekommen, erschreckte sie – im Moment konnte ihr nichts ungelegener kommen –, aber der Gedanke, etwas von diesem kraftvollen Leben auf Dauer in sich zu behalten, erfüllte sie mit süßer Vorfreude.
Sie drehte das Papier, das sich schmierig und fettig zwischenihren Fingern anfühlte, hin und her. Außer ihr selbst gab es nur eine weibliche Person, die hier gewesen sein mochte: Fräulein
Paula Hahne.
Louise verzog verächtlich den Mund. Es war ein offenes Geheimnis, dass das im Allgemeinen so sittsame Fräulein Rührmichnichtan
Paula sich gelegentlich skandalösen Exzessen hingab. Hin und wieder überkam es sie wie eine Quartalssäuferin, dann wurde sie
mannstoll und verließ das Haus, um einige Tage in irgendeinem billigen Hotel
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