Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
irgendwann war alles erzählt. Keine noch so unangenehme Einzelheit hatte sie bei den Gesprächen mit Runa ausgelassen – bis auf die eine Tatsache, dass Heseke, Luburgis und Ingrid sie hatten töten wollen. Diese Tat war so schrecklich, dass Ragnhild entschied, ihre Tochter nicht damit zu belasten. Runa hatte noch eine lange Zeit unter Ingrid zu leben – es wäre schlimm gewesen, wenn sie immerzu an den misslungenen Mordversuch an ihrer Mutter hätte denken müssen, sobald sie der Magistra begegnete.
Ragnhild wollte gerade noch sagen, dass Agatha sich nicht um sie zu sorgen brauche, als sie erschrocken bemerkte, dass sie sich bereits viel zu lange bei ihrer Freundin aufgehalten hatte. Hastig verabschiedete sie sich und machte sich auf den Heimweg. Innerlich aufgewühlt von den Ereignissen des Tages und der jetzt aufkeimenden Angst, zu spät zu Hause zu sein, hetzte sie durch die Straßen. Hoffentlich hatte Symon ihr Verschwinden nicht bereits bemerkt. Er war am Morgen, wie so oft, mit ihren beiden Söhnen Symon und Christian zum Hafen gegangen. Sie sollten das Kaufmannshandwerk von ihm erlernen, das der Familie mit den Jahren ein bescheidenes Vermögen eingebracht hatte.
Seit er die Söhne nunmehr tagtäglich mit sich nahm, war Ragnhilds Einsamkeit an manchen Tagen schier unerträglich. Umso mehr litt sie dann unter seiner Eifersucht. Als er in der Früh das Haus verlassen hatte und Grit zum Wochenmarkt gegangen war, hielt Ragnhild nichts mehr im Hause, und sie machte sich heimlich auf den Weg zu Runa.
Durch Grit hatte Symon seine Frau wissen lassen, dass sie ihn nicht vor der Mittagsstunde zurückerwarten sollte, und nun stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Ragnhild begann vorsichtshalber, sich allerhand Erklärungen bereitzulegen, falls er sie außerhalb des Hauses erwischte.
Ausgerechnet heute waren besonders viele Leute unterwegs. Ragnhild musste sich regelrecht durch die Menge schieben, um einigermaßen schnell voranzukommen. Der Wochenmarkt und das gute Wetter zogen die Alten und die Jungen, die Armen und die Reichen sowie die Ehrlichen und die Unehrlichen an wie der Mist die Fliegen. Gerade vor Letzteren musste man sich in Acht nehmen, denn den Beutelschneidern kamen große Menschenmengen zugute. Ein kurzer Moment der Unaufmerksamkeit reichte aus, und man war seiner Geldkatze beraubt. Ragnhild hielt stets eine Hand in ihren Rockfalten, wo sich ihre Münzen befanden.
Der Tag war so warm wie bereits etliche davor, und schon nach kurzer Zeit rann Ragnhild der Schweiß von der Stirn. Den Blick starr nach vorn gerichtet, wich sie geschickt den Leuten aus und kam so einigermaßen gut voran. Endlich erreichte sie den Platz des Wochenmarktes. Hier verteilten sich die Kaufwilligen an den Schrangen und Ständen mit allerlei Back- und Lederwaren, Tonkrügen, Gewürzen, Messern, Pelzen, Bändern, Stoffen, Obst und Gemüse. Gerne hätte auch Ragnhild genauer geschaut, denn zu Hause erwartete sie sowieso nur die Langeweile, doch diese Freiheit war ihr nicht vergönnt.
Als sie gerade in eine kleine Gasse abbiegen wollte, die eine ihr bekannte Abkürzung war, stockte ihr plötzlich der Atem, und sie blieb stehen. Vollkommen unvermittelt und nicht weit von ihr entfernt sah sie ihn stehen – Albert!
Er hatte sie nicht entdeckt. Ragnhild versuchte mit all ihrer Kraft, den Blick von ihm loszureißen und weiterzugehen, doch sie konnte es einfach nicht. Vollkommen reglos starrte sie ihn an. Sein Haar hatte noch immer diese warme hellbraune Farbe. Er trug es länger als sonst. Noch immer wusste sie genau, wie es sich zwischen ihren Fingern angefühlt hatte. Sein Gesicht war zwar zum großen Teil von seinem vollen Bart bedeckt, doch trotz dieses Bartes konnte Ragnhild darunter noch immer seine jugendlichen Gesichtszüge entdecken.
Ragnhild hatte Albert nun schon eine lange Zeit nicht mehr gesehen – vielleicht waren es schon ein oder zwei Jahre –, doch kam es ihr nicht so vor, da er ständig in ihren Gedanken weilte. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte sie, dass er um die Augen und den Mund bereits die ersten Falten trug. Er war älter geworden – genau wie sie selbst. Doch seine neununddreißig Jahre gereichten ihm nicht zum Nachteil. Aufrechten Ganges schritt er an den Ständen vorbei, die ganze Aufmerksamkeit noch immer auf die Waren gerichtet.
Sein Anblick schien Ragnhild so vertraut, dass er ihr Herz wärmte. Alle Entschlossenheit, die sie eben noch weitergetrieben hatte, war verschwunden, und jede
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