Die Gegenpäpstin
Glaubensrichtungen, die zwar
verschiedene Theorien vertraten, sich aber nichtsdestotrotz der jüdischen, |359| alttestamentarischen Tradition verpflichtet fühlten. Eine Gruppe davon waren die Sadduzäer. Sie hatten zu Zeiten von Jesu
Kreuzigung das Amt des Hohepriesters im Tempel von Jerusalem inne. Es gab da allerdings eine Besonderheit. Allgemein wird
Kaiphas als Hohepriester des Tempels angesehen, der für den Tod Jesu mitverantwortlich gewesen sein soll. Doch nicht einmal
die christlichen Evangelien sind sich einig, wer damals welche Rolle im Hohen Rat übernommen hatte. In Wahrheit war es wohl
Hannas I., Schwiegervater des Kaiphas, der die Fäden in der Hand hielt. Auch er ein Sadduzäer, doch, wie ich mittlerweile
glaube, einer von der falschen Sorte. Es steht zu vermuten, daß Hannas I. ein doppeltes Spiel spielte. Tagsüber war er ein
Vertreter der in den Augen der Sadduzäer reinen Lehre, in der es weder Engel noch Dämonen und auch kein Fortleben nach dem
Tode gab. Des Nachts jedoch verwandelte er sich in einen Priester der ›Söhne des Lichts‹, wie er seine Sekte nannte, und verehrte
als deren Oberhaupt einen Abgesandten der Finsternis, der die blutige Opferung wilder Stiere und unschuldiger Jungfrauen forderte
und ihm dafür die Weltherrschaft versprach. Ein Indiz dafür, daß die Legenden recht behalten könnten, ist der Tod Jaakovs
von Nazareth. Auch wenn Ihre Kirche etwas anderes sagt, war Jaakov nach allem, was die Chronisten der damaligen Zeit schreiben,
der leibliche jüngere Bruder Jesu. Er wurde im Jahre 62 n. Chr. vom Hohen Rat des Tempels in Jerusalem zum Tode verurteilt
und anschließend gesteinigt. Ich gehe davon aus, Sie wissen, wer für dieses Urteil verantwortlich war.«
Der Inspektor sah Padrig an, ohne jedoch eine Erwiderung abzuwarten. »Es war Hannas ben Hannas oder, wie die Historiker ihn
nennen, Hannas II., seines Zeichens Hohepriester und Sohn jenes Hannas I., der in den Evangelien bei der Verurteilung des
Jesus genannt wird. Anscheinend hatte er die gleichen Leidenschaften wie sein Vater und sah sich durch die Christen oder genauer
durch die noch lebende Verwandtschaft des Jesus von |360| Nazareth bedroht. Denn diesen ersten Christen ging es nicht um die Weltherrschaft, sondern um Frieden auf Erden. Die Machenschaften
des Hannas ben Hannas hätten sie keinesfalls gutgeheißen, eine Einstellung, die man ohne Zweifel auch Sadduzäern und Pharisäern
nachsagen kann. Vielleicht war dieser Umstand auch der Grund dafür, warum die beiden stärksten Fraktionen des Tempels eben
jenen Hannas II. nur ein Jahr nach dem Tod Jaakovs als Hohepriester im Sanhedrin abgesetzt haben. Ein bis dahin unerhörter
Vorgang.«
»Woher wissen Sie das alles?« fragte Padrig erstaunt.
»Sarahs Vater, der Rabbi, hat mir ein wenig Nachhilfeunterricht gegeben, nachdem ich ihm von diesem Widderkopf und dem fünfzackigen
Stern erzählt hatte. Das Symbol war mir ins Auge gesprungen, als ich den Internetlink Ihres Schwagers geöffnet habe. Der anonyme
Anbieter des gestohlenen Chanukkaleuchters verwendet das Zeichen als Icon und nennt sich sinnigerweise Fürst der Finsternis.«
»Und was hat das alles mit Sarah und der Entführung zu tun?« Padrig hatte Morgenstern zwar folgen können, doch noch sah er
keinen Bezug zu den Geschehnissen in Deutschland und Italien.
»Ich habe einige Recherchen angestellt«, fuhr Morgenstern fort. Nun rief er Bilder der Höhle auf dem Jebel Tur’an auf. »Die
Legende besagt weiter, daß Jaakov von Nazareth dort oben eine Hütte unterhielt, so etwas wie eine bescheidene Sommerresidenz.
Möglicherweise hat er seine Zeit dort nicht alleine verbracht. Gewisse Quellen besagen, er sei wegen Unzucht mit seiner Schwägerin,
also Mirjam von Taricheae, und wegen des Verstoßes gegen das Gebot des Shabbats zur Steinigung verurteilt worden – und daß
Hannas II. die ehemalige Gefährtin Jesu nicht weniger verfolgen ließ. Doch Hannas ben Hannas hat Mirjam von Taricheae nie
gefunden. Weder tot noch lebendig, und auch die Leiche Jaakovs blieb nach seinem Tod verschwunden. Das muß Hannas II. und
seine Anhänger sehr beunruhigt haben.«
|361| Morgenstern hob seine Brauen und gestattete sich ein geheimnisvolles Lächeln. »Nach allem, was Sarah und ihre Kollegen zutage
gebracht haben, wissen wir, daß Jaakov ebensowenig auferstanden ist wie Mirjam von Taricheae, zumindest was deren sterbliche
Hülle betrifft, und daß Hannas II.
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