Die geheime Braut
unsere Läden getraut – aber was sollen wir machen? Wir müssen schließlich überleben!«
Ja, überleben, dachte Susanna, als sie sich mit den Kerzen im Korb auf den Rückweg machte. Leben will ich!
Ihre Gedanken überschlugen sich, so aufgeregt war sie auf einmal.
Es gab also einen unsichtbaren Patron, der wie ihr Peiniger roch. Das war mehr als alles, was sie bislang gewusst hatte.
Marlein hatte ihr einen Weg aufgezeigt, den sie weiter beschreiten würde. Aber wie in aller Welt sollte eine ehemalige Nonne es anstellen, unbemerkt in ein Hurenhaus zu gelangen?
*
Pistor blieb ruhig, als Melanchthon zu reden begann, und alle anderen im kleinen Saal lehnten sich auf ihren Stühlen zurück, denn sie wussten, dass es dauern konnte, bis er zum Eigentlichen kam.
»Ich bin mir der Ehre dieses Angebots durchaus bewusst«, sagte Pistor, als Melanchthon endlich geendet hatte. »Und danke für das Vertrauen, dass die Herrn Collega mir entgegenbringen. Doch eigentlich liegt mein Schwerpunkt ganz und gar auf der Wissenschaft, geschätzte Herren. Ich bin ein Sammler und Forscher. Besitz bedeutet mir nichts – bis auf ganz wenige Ausnahmen. Und was einem nichts bedeutet, das kann man auch nicht gut verwalten. Da gibt es andere, die dazu eindeutig mehr Talent zeigen.«
»Das lässt sich alles erlernen«, rief Hunzinger. »Wir würden Euch ja beistehen!«
»Da spricht ganz der Mathematiker.« Pistor lächelte leicht, was selten bei ihm vorkam, denn meist war sein Gesicht ernst. »Doch Menschen sind nun mal keine Zahlenreihen, die man nach Belieben addieren oder subtrahieren kann. Niemand kann seine Natur abstreifen. Wir bleiben, was wir sind.«
»Welch interessanter Aspekt!«, sagte Moralphilosoph Block. »Dann würdet Ihr folglich der Vernunft oder Einsicht einen minderen Rang zuweisen wollen?« Er strich über seinen beachtlichen Bauch, den er hegte und nährte, als wollte er seinem zutiefst verehrten Vorbild Thomas von Aquin auch in dieser Hinsicht nacheifern. »Ich hätte freilich gedacht, dass einer wie Ihr, der seinen Aristoteles auswendig weiß …«
»Wir brauchen einen Rektor«, fiel Luther ihm ins Wort. »Ein fähiger Kopf, der der Leucorea vorsteht und sie in diesen schwierigen Zeiten durch unruhiges Gewässer lenkt. Allein darauf kommt es jetzt an. Ja, die Studentenzahlen steigen, und das ist durchaus erfreulich – auch und gerade für die Stadt Wittenberg. Doch es führt auch zu neuen, bislang nicht bekannten Problemen.«
»Ihr sprecht von der Toten?«, fragte Pistor.
»Ganz genau. Und dass Ihr dies sofort erschließt, zeigt mir, wie prächtig Ihr für das Amt des Rektors geeignet wäret. Mein Freund Cranach hat als Ermittler des Rates mit seinen Befragungen bereits begonnen. Doch bis wir den Täter dingfest gemacht haben, liegt Angst wie klebriger Mehltau über Wittenberg.«
»Viele denken, es sei einer unserer Studenten gewesen«, sagte Anatomieprofessor Winsheim. » Pars pro toto – verdächtigen sie einen, verdächtigen sie alle. Für die jungen Menschen, die sich hier in unsere Obhut begeben haben, wird eine schwierige Zeit anbrechen. Zwei von ihnen sind schon heute verzweifelt zu mir gekommen, weil sie von einem Tag auf den anderen ihre Schlafstelle verloren haben.«
»Was für ein Unsinn!« Melanchthon bäumte sich auf. Noch immer so nachlässig gekleidet wie in Junggesellentagen, trug er trotz der Sommerwärme ein abgeschabtes Wams, das bei jeder Bewegung um seinen knochigen Körper schlotterte. »Was soll der ganze Aufwand? Für mich steht der Schuldige längst fest. Es ist niemand anders als dieser Relin. Jetzt sagt doch auch endlich einmal was, Collega Pistor! Teilt Ihr denn nicht meine Ansicht?«
»›Diese zwei Willen wohnen in meiner Brust‹«, erwiderte Pistor. »›Der eine alt, der andere neu, der eine der Diener des Fleisches, der andere des Geistes. Und sie rissen meine Seele entzwei.‹« Wieder dieses unergründliche Lächeln. »Ihr werdet Euren Augustinus kennen.« Das war an Block gerichtet. »Und mir zugestehen, dass ich den Stab über niemanden brechen mag, solange seine Schuld nicht eindeutig bewiesen ist.« Das galt Melanchthon.
»Aber was sollen wir denn tun?«, fragte Schöneberg, der die Scholastische Theologie vertrat.
Luther, ungewohnt hilflos, zuckte die Achseln.
»Wenn ich den verehrten Kollegen einen Vorschlag unterbreiten dürfte?«, sagte Pistor. »Kommt in fünf Tagen in mein Haus gleich hinter St. Marien. Ihr erkennt es unschwer an dem blauen Hahn auf dem
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