Die geheimen Jahre
heraushelfen.
Dann stand sie ihm gegenüber. Daniel Gillory war inzwischen natürlich gröÃer und älter, dennoch erkannte sie ihn sofort. Das goldbraune Haar, das sich im Regen kringelte, die gerade Nase, der Mund. Die gleichen haselnuÃbraunen Augen starrten sie mit fast demselben erschrockenen Ausdruck an wie vor sechs Jahren. Beinahe erwartete sie, den Donner zu hören, der damals den Regen begleitete, und die Blitze zu sehen, die den trüben grauen Himmel zerrissen. Seine physische Gegenwart wirkte fast überwältigend, als sie sich erinnerte, wie dieser Mann ihre Tochter umarmt hatte. So klar stand das Bild vor ihr, als wäre es gestern gewesen. Der Ausdruck in seinen Augen veränderte sich jetzt von Erschrecken zu einer Art unverschämter Amüsiertheit, gepaart mit Triumph.
Sie ging an Daniel Gillory vorbei und gab natürlich vor, ihn nicht zu erkennen. Allerdings bemerkte sie, daà er die junge Frau zurücklieà und von der Kirche wegmarschierte. Köpfe neigten sich, als sie an den Dorfbewohnern vorbei unters Vordach trat. Daniel Gillory hatte sich nicht verbeugt. Genau wie damals vor vielen Jahren, als sie ihn mit Lally erwischte, überkam sie physischer Ekel. Jetzt war er vielleicht noch schlimmer, weil er ein Mann und kein Junge mehr war.
Als Lady Blythe betete, waren ihre Gedanken nicht von christlicher Vergebung und Nächstenliebe geprägt. Der ganze aufgestaute Ãrger der vergangenen Monate nagte an ihr. Weder antwortete sie rechtzeitig bei den Gebeten, noch konnte sich an die Melodien der Kirchenlieder erinnern.
Als der Gottesdienst vorbei war, verlieà sie wie gewöhnlich als erste die Kirche. Unter dem Vordach blieb sie kurz stehen und sagte: »Sie müssen heute nachmittag in die Abbey kommen, Herr Pfarrer. Gegen vier wäre passend.« Dann schritt sie zu dem wartenden Auto.
Sir William befand sich im Wintergarten, als Lady Blythe aus der Kirche zurückkam. Sie streifte die Ziegenlederhandschuhe ab, setzte sich aber nicht.
»Langweiliger Gottesdienst?« fragte Sir William und füllte die Sprühflasche nach.
»Ich weià nicht mehr.« Gwendoline pflückte ein paar welke Blätter von der Bleiwurz. »Ich habe Daniel Gillory gesehen, William.« Sie muÃte den Namen geradezu herauswürgen: Er brannte wie Säure in ihrem Hals.
»Gillory?« fragte William unbestimmt. »Den Hufschmied �«
»Seinen Sohn. Jack Gillory ist tot.«
Sie sagte nicht: »Jack Gillory ist im Krieg gefallen.« Damit hätte sie ihn auf die gleiche Stufe mit Helden wie Gerald gestellt.
»Oh.« William klang desinteressiert. Er füllte einen Terrakottatopf mit Kompost. »Nun, der Junge ist in Drakesden zu Hause, Gwennie. Also ist es doch kaum überraschend â¦Â« Seine Stimme brach ab, der Satz blieb unvollendet.
Diese Sparsamkeit mit Worten wurde bei William zunehmend zur Gewohnheit. Nie war er gesprächig, seine Sätze blieben häufig unvollendet in der Luft hängen, als wären Worte â genauso wie Geld â inzwischen Mangelware auf Drakesden Abbey. Gwendoline fand diese Angewohnheit unerträglich ärgerlich.
»Gillory â Daniel Gillory â hat Drakesden kurz nach Ausbruch des Krieges verlassen, wenn du dich erinnerst, William. Ist einfach auf und davon.«
Vorsichtig setzte William den OrchideenschöÃling in die feuchte Erde. »Vermutlich ist er Soldat geworden, Gwennie.«
Ein Bleiwurztrieb brach unter Gwendolines Händen ab, und himmelblaue Blütenblätter fielen auf den gefliesten Boden. Sie zischte: »Er hat für uns gearbeitet, William!«
»Ja.« Er stellte seine Pflanzen beiseite und sah sie an. »Das war unhöflich von ihm, Gwendoline, aber kaum der Rede wert.«
Wie schon so viele Male im Laufe der Jahre fragte sie sich, ob sie richtig gehandelt hatte, die Episode mit Lally und Daniel Gillory vor William geheimzuhalten. Aber darüber zu sprechen hätte bedeutet, über Dinge zu sprechen, über die nachzudenken sie selbst vermied. Sie bemühte sich, ihren Abscheu unter Kontrolle zu bekommen.
»Es ist nur, daà dieser Gillory auch in diesem Sommer hier war. Und seitdem ist alles schiefgegangen.«
Sie wandte sich von ihm ab und trat ans Fenster. Das Glas war von der Wärme des Wintergartens beschlagen. Als sie die Scheibe mit den Fingerspitzen berührte, rannen groÃe Wassertropfen über das Glas
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