Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
mich, ob wir es überstehen würden.
Wer einmal bei Windstärke zehn oder elf auf einem Boot auf dem Meer war, wer einmal die glutroten Lavamassen eines speienden Vulkans hat beobachten können, wie sie sich unaufhaltsam ihren Weg ins Tal bahnten, Häuser, Kirchen, Straßen, Telefonmasten, Autos und zu spät erwachte Menschen unter sich begruben bzw. in einen neuen Aggregatzustand verwandelten, wer aus dem Schlaf gerissen worden war, weil die Erde bebte und auf einmal alle Wände Risse bekamen und sich der Schlund der Hölle öffnete, oder wer sich im Bereich eines Hurricans der Stärke Fünf befunden hat, der wird nie mehr an die Beherrschung der Natur durch den Menschen glauben. Und der wird nicht verstehen können, warum Politiker Jahrzehnte brauchen, um sich auf Maßnahmen zum Klimaschutz zu verständigen. Ein kleiner Generator produzierte Notstrom, der für die Beleuchtung von einigen Kerzenformlampen an den Wänden sorgte sowie für das Betreiben einer Tiefkühlbox hinter der Bar und einer großen Musikanlage. Frank Sinatra schmetterte, wahrscheinlich als Beruhigung gedacht, sein „New York, New York“ aus den Boxen, konnte aber die Stimmung nur wenig heben und das Weinen und Quengeln der völlig übermüdeten vielleicht fünfzig oder sechzig Kinder im Raum nur unzureichend übertönen. Daniela heulte und wollte ihren Monchhichi zurück. Ich gab ihr meinen Plüschigel vom Schlüsselbund, den sie fest an ihre Brust drückte und tatsächlich sofort einschlief und für mich unverständlich, die schlimmsten, die Morgenstunden, gar nicht bewusst miterlebte.
Gegen Mittag hatten wir die Gewissheit, dass alles vorüber war, zumindest die Lebensgefahr. Für sechsundzwanzig Menschen Südfloridas war ohnehin alles vorüber. Sie fielen zusammenstürzenden Häusern, umstürzenden Bäumen oder den Fluten zum Opfer. Hunderte Verletzte wurden in den Hospitälern behandelt. Zehntausende Häuser existierten nicht mehr, Strommaste waren umgerissen, Bäume und Pflanzen entwurzelt worden, selbst große Palmen abgeknickt. Die Vegetation hatte gelitten, das Wasser der Everglades war erheblich angestiegen und viele Tiere elend ertrunken. Es dauerte Wochen bis auch die kleineren Straßen freigeräumt, die Strom- und Telefonversorgung wieder überall gewährleistet werden konnte und die Wirtschaft zu neuem Leben erwachte.
Eine Rückfahrt nach Fort Lauderdale am gleichen Tag war ausgeschlossen, die Katastropheneinsatzkräfte benötigten drei Tage, um wenigstens die Hauptstraßen wieder passierbar zu machen. Wir bekamen zwei Zimmer in einem Dreischlafzimmerhaus einer netten über achtzigjährigen Witwe zugeteilt, die aus Chicago stammte und sich mit ihrem Mann, der vor einem Jahr verstorben war, in dieser Anlage niedergelassen hatte, um den Lebensabend im Sonnenstaat zu verbringen. Leider, wo Sonne, so auch Schatten, oder eben Wirbelstürme.
Wir beteiligten uns an den kommenden Tagen an den Aufräumungsarbeiten innerhalb der Clubanlage.
Da die Häuser alle stabil gebaut waren, hatten es nur leichte Schäden an einigen Dächern und bei Vorbauten und Terrassen gegeben, aber alle Wege waren voller abgerissener Äste und Pflanzen, die reichhaltige und größtenteils künstlich angelegte Flora hatte stark gelitten und bedurfte einer Erneuerung. Wir waren froh, glimpflich davon gekommen zu sein, die Sonne schien, als ob sie sich nie hätte von Wolken und Sturm vertreiben lassen und die Solidarität unter den Bewohnern und Gästen war sehr groß, der Ton herzlich.
Selbst Monique, die kein Freund von Gartenarbeit war, schnitt mit Leidenschaft kleinere, abgenickte Äste ab und harkte Berge von Palmenblättern, Ästen und Blüten zusammen. In den späten Nachmittagsstunden saßen wir mit Madeleine, unserer Wirtin, auf der Terrasse, tranken Kaffee und plauderten, als ob Katastrophen nur Bestandteile von Grimms Märchenbüchern wären.
Daniela hatte sich mit zwei gleichaltrigen Mädchen aus der Anlage angefreundet, und obwohl sie nur einzelne englische Worte sprechen oder verstehen konnte, hatte sie keinerlei Verständigungsprobleme. Vielleicht gehört die Welt, wie der Sänger Herbert Grönemeyer einmal behauptete, tatsächlich in Kinderhände. Es war verrückt, aber die Tage nach dem großen Sturm waren die schönsten und interessantesten unseres gesamten Aufenthaltes. Wir wohnten nach dem Verlassen des Clubs noch zwei Tage in unserem Feriendomizil in Fort Lauderdale, das Haus hatte dem Sturm getrotzt. Auf der A1A sahen wir zerschellte
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