Die Geometrie der Wolken
keine dieser Fragen bejahen. Doch in diesem Moment, in dem sich anscheinend Chaos
und
Ordnung auf meine Seite schlugen, näherte ich mich wohl einem idealen Leben an. Da ich seine Unbeständigkeit anerkannte, erlebte ich einen Augenblick der Freiheit.
Die letzte Rechnung kann ich kaum erklären: Man
weiß
einfach, dass sie richtig ist. Ein Hauptgrund dafür war Ryman. In dem Moment wurde mir klar, dass er mich vor allem gelehrt hatte, wie wichtig Diskontinuität war. Nicht nur wissenschaftliche Diskontinuität, sondern auch eine Diskontinuität des Denkens und Fühlens. Dass man in einer Welt endlosen Zerfalls und endloser Neubildung - einem Kontinuum, einer Welt des Fließens - seinen eigenen Rhythmus finden muss, indem man gerade die Unvollständigkeit der Melodie anerkennt.
Das war ein großes Geschenk, denn in der Unvollständigkeit begründet sich das Ideal des Ganzen. Sie weist den Weg zu den Dingen, die am Rand jedes Systems auftauchen, sei es der Trichter eines Ameisenlöwen in Nyasaland, seien es die Ränder des Universums, die sich ewig ausweiten.
Ich blieb eine Weile vor der vollständigen Berechnung der Ryman-Zahlen aller benachbarten Wetterzonen zwischen Island und dem Kanal sitzen - und vor der Lampe, den Häufchen aus Messingziffern, die jeden Quadranten beschrieben, und den Patronenhülsen, die wie Statuen auf dem Tisch standen. Wenn ich bei jedem Schritt zurückschaute, war es wie der Blick in einen Schöpfungstraum - als würde ich dabei zusehen, wie etwas Leben eingehaucht bekam, sich bewegte, atmete, erwachte ...
Es war gefährlich, den Anblick des vollständigen Werks zu sehr zu genießen, das wusste ich. Ich wehrte mich gegen dieses ekstatische Gefühl, doch der höchste Ast des Baumes - Donnerwetter, was für ein Anblick! Ich sah nicht nur die eine Prognose aus der Spitze des Zweigs hervorgehen, sondern etwas Größeres, etwas Herrliches. Die frohlockende Verkündung eines neuen Zeitalters der Meteorologie, das nicht nur den D-Day betraf, sondern das gesamte Reich der Atmosphäre.
Ich sah auf die Uhr. Es war fünf nach neun, und mir knurrte der Magen.
Mit einem Freudenschrei griff ich die Blätter mit den Berechnungen und stieß die Tür der Hütte auf, was den neuen Wachposten erschreckte, der bereits eingedöst war. Ich lachte in die Luft, die langsam heller wurde, atmete tief ein und rannte dann den Hügel zum Haupthaus hinunter. Auf dem Kiesparkplatz wurde Stagg gerade von Don Yates getröstet, weil das schlechte Wetter noch nicht eingetreten war, das der Anlass für die Verschiebung der Pläne für den nächsten Tag gewesen war. Sie ahnten nichts von meiner Entdeckung und machten sich immer noch Sorgen wegen des schlechten Wetters, in dem ich aber glaubte eine Unterbrechung gefunden zu haben.
»Wir sind hier mitten im Wald, mein Freund. Hier ist es nun mal windgeschützt, und in Irland ist definitiv eine Kaltfront gemessen worden«, sagte Yates und strich sich durchs dunkle Haar. Die irische Kaltfront bestätigte, dass die Entscheidung, die Invasion zu verschieben, die richtige gewesen war.
»Und sehen Sie mal da!« Yates hob den Finger. Stagg und ich schauten in die Richtung, in die er zeigte. Ich war immer noch außer Atem vom Spurt den Hügel hinab.
Tatsächlich bewegten sich im Westen die Baumwipfel. Der Wind trug eine bedrohliche Armada von Wolken heran. Es waren die haufenförmigen, türmchenbesetzten, galeonenartigen Wolken, die oft Gewitter versprechen. Altocumulus castellanus. »Doch es ist schon merkwürdig, zu feiern, dass die Invasion nicht stattfindet, so erfolgreich die Vorhersage auch war«, setzte Yates fort.
»Vorsicht ist besser als Nachsicht«, erwiderte Stagg.
»Alles wird gut«, schnaufte ich. »Ich weiß es jetzt!«
»Was?«, fragte Stagg ärgerlich.
»Es wird wirklich eine Wetterunterbrechung geben. Ich habe endlich die Ryman-Zahlen von WANTAC bis zum Kanal berechnet. Heute Nacht gibt es tatsächlich Sturm, und das schlechte Wetter hält bis Montagmorgen an. Die Kaltfront kann jetzt nichts mehr aufhalten, aber ihr folgt ein kurzer Abschnitt mit ruhigerem Wetter. Und das bedeutet, dass wir Dienstag die Invasion starten können, wenn die Kaltfront den Kanal verlassen hat.«
Ich wollte ihnen erzählen, dass ich zu dem Ergebnis gekommen war, indem ich die Berechnungen nach Gills Rat mit simulierten Zufallswerten in den Griff bekommen hatte. Ich wollte erzählen, dass das Ganze mit den dünnen Schichten zwischen benachbarten Wettersystemen zu tun hatte,
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