Die Gesellschaft des Abendsterns
auf und nahm mit einem Spatel ein wenig Paste heraus. »Ich mixe die Zutaten so, dass die Wirkung sehr schnell einsetzt und genauso schnell wieder vergeht, damit du nur eine kurze Kostprobe des Gefühls vermittelt bekommst.« Tanu nahm ein kleines Blatt aus dem Beutel und schmierte die Paste auf das Blatt. Dann gab er vier Tropfen aus einem der Fläschchen auf das Blatt, fügte einen Tropfen aus einem anderen hinzu und rührte die Flüssigkeit mit dem Spatel in die Paste. Er reichte Seth das Blatt.
»Ich soll das Blatt essen?«, fragte Seth.
»Iss alles auf«, antwortete Tanu. »Aber setz dich zuerst hin. Wenn die Wirkung eintritt, kann das sehr verstörend sein, viel realer, als du wahrscheinlich erwartest. Versuch dich daran zu erinnern, dass das Gefühl nicht real ist und schnell vorübergehen wird.«
Seth setzte sich auf einen mit Brokat überzogenen Armsessel. Er schnupperte kurz an dem Blatt, dann schob er es sich in den Mund, kaute und schluckte es schnell hinunter. »Nicht schlecht. Schmeckt ein bisschen nach Erdnuss.«
Kendra beobachtete ihn aufmerksam. »Wird er gleich ausflippen?« , fragte sie.
»Wart’s ab«, sagte Tanu, der ein Grinsen unterdrücken musste.
»Bis jetzt fühl ich mich gut«, verkündete Seth.
»Es dauert ein paar Sekunden«, sagte Tanu.
»Ein paar Sekunden, bis was passiert?«, fragte Seth. Ein ängstlicher Unterton stahl sich in seine Stimme.
»Siehst du?«, meinte Tanu und zwinkerte Kendra zu. »Es fängt an.«
»Was fängt an?«, fragte Seth und sah sich hektisch um. »Warum haben Sie ihr zugezwinkert? Warum reden Sie so, als wäre ich gar nicht da?«
»Entschuldige, Seth«, sagte Tanu. »Wir meinen es nicht böse. Das ist die Wirkung des Tranks.«
Seths Atem ging jetzt stoßweise. Er rutschte in seinem Sessel hin und her und rieb sich die Oberschenkel. »Was haben Sie mir da gegeben?«, rief er plötzlich. »Warum haben Sie so viel von dem Zeug zusammengemischt? Woher weiß ich, dass ich Ihnen trauen kann?«
»Es ist alles in Ordnung«, schaltete Kendra sich ein. »Du spürst lediglich die Wirkung des Tranks.«
Seth sah Kendra an. Sein Gesicht zuckte, und in seinen Augen standen Tränen. Er sprach immer lauter und klang fast schon hysterisch. »Nur der Trank? Nur der Trank!« Er kicherte. »Du kapierst es nicht? Er hat mich vergiftet! Er hat mich vergiftet, und du bist die Nächste. Ich werde sterben! Wir werden alle sterben!« Zitternd rollte er sich in seinem Sessel zusammen und schlang die Arme um die Knie.
Eine einzelne Träne sickerte aus einem Auge und rann seine Wange hinab.
Kendra sah Tanu beunruhigt an. Tanu hob beschwichtigend die Hand. »Die Wirkung lässt schon nach.«
Sie sah wieder zu ihrem Bruder hinüber. Er saß einen Moment lang still da, dann streckte er die Beine aus, setzte sich aufrecht hin und wischte sich die Träne von der Wange. »Wow«, murmelte Seth. »Sie haben keine Witze gemacht! Das hat sich so echt angefühlt. Ich konnte kaum mehr denken. Ich dachte, Sie hätten mich dazu überlistet, Gift zu trinken oder so was.«
»Dein Verstand hat nach Bedrohungen gesucht, um das Gefühl zu rechtfertigen«, erklärte Tanu. »Was dir geholfen hat, war, dass du vorher wusstest, dass das Gefühl kommen würde. Hätte ich dir den Trank heimlich verabreicht, wäre es viel schwieriger für dich gewesen, zu begreifen, was vorgefallen ist. Erst recht, wenn ich eine höhere Dosierung benutzt hätte. Stell dir vor, das Gefühl wäre noch viel intensiver gewesen und hätte länger angehalten.«
»Du musst es auch mal probieren«, sagte Seth zu Kendra.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das will«, erwiderte Kendra. »Kann ich nicht was Schönes fühlen?«
»Wenn du die Kraft eines solchen Zaubertranks kennenlernen willst, solltest du ein Gefühl probieren, gegen das du dich normalerweise sträubst«, sagte Tanu. »Für den Moment ist es erschreckend, aber anschließend wirst du dich viel besser fühlen. In gewisser Weise ist es reinigend. Ein gelegentlicher Ausflug in negative Gefühle macht normale Gefühle umso erfreulicher.«
»Er hat Recht, ich fühle mich jetzt großartig«, meldete Seth sich zu Wort. »Wie bei dem Rätsel: Warum schlägst du dir fünfzig Mal mit einem Hammer auf den Kopf?«
»Warum?«, fragte Kendra.
»Weil es so guttut, wenn du aufhörst!«
»Probier ein anderes Gefühl als Furcht«, sagte Tanu. »Dann hätten wir eine größere Bandbreite abgedeckt.«
»Suchen Sie eins für mich aus«, erwiderte Kendra. »Verraten Sie mir
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