Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
wohl geht, dort in dem Haus mit den hohen Mauern?«
Er zog sie an seine Brust. »Ich bin sicher, du wirst sie bald wiedersehen.«
»Das gebe Gott.«
An Deck waren die ersten Schritte zu hören, und der Kapitän brüllte einen Befehl. Cristin schmiegte sich in Baldos Arme, während der Boden unter ihnen verdächtig schaukelte. Sie nahm einen tiefen Atemzug der salzigen Meeresluft.
»Wie lange werden wir wohl noch unterwegs sein?«
»Übermorgen laufen wir in Lübeck ein.« Er zögerte einen winzigen Augenblick. »Wenn alles gut geht.«
»Was meinst du damit?«
»Ich habe den Kapitän mit seinem Steuermann gestern Abend darüber reden hören, dass zwei andere Schiffe in der Nähe seien.«
Sie hob fragend die Brauen.
»Er meinte, es seien keine Hansekoggen.«
»Was bedeutet das?«
»Es könnten Schiffe sein, die den Vitalienbrüdern gehören.«
Cristin schlug die Hand vor den Mund. Über die Seeräuber um Klaus Störtebeker und Godeke Michels sprach man seit Jahren auch in Lübeck, stellten sie doch für die Hanse die größte Bedrohung seit deren Gründung vor zweihundert Jahren dar. Viele dieser Kerle waren verarmte Adelige aus Mecklenburg, die von ihrem letzten Geld eine Kogge gekauft und sich den Seeräubern angeschlossen hatten. Zuerst hatten sie nur dänische Schiffe überfallen, aber seit sie die schwedische Insel Gotland besetzt und dort ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatten, machten die Seeräuber vor nichts mehr halt, nicht einmal vor den Handelsschiffen in Nord- und Ostsee. Selbst an Land waren sie kaltblütig genug, um die Bewohner kleinerer Küstenstädte auszuplündern. Wer sich ihnen widersetzte, wurde umgebracht, hatte Lukas ihr einmal erzählt. Cristin erschauerte.
Sprühregen hatte eingesetzt, und der Wellengang war stärker geworden. Die Sturmvogel schlingerte jetzt so sehr, dass sie sich an der Reling festhalten mussten, um nicht hin und her geworfen zu werden. Lump hatte den Schwanz zwischen die Hinterbeine geklemmt und winselte.
»Wir sollten wieder unter Deck gehen!«, rief Baldo gegen den Wind an, während er Cristin am Arm fasste und mit sich zog.
Sie warf einen letzten Blick zurück, doch nun schienen sich sämtliche Schleusen des Himmels geöffnet zu haben, und der Regen prasselte beinahe schmerzhaft auf sie nieder. Der Wind heulte, und der Hund tat es ihm gleich. Vor sich konnte sie noch schwach eine graue Wolkenwand ausmachen, dann würgte sie. Im Nu war sie bis auf die Haut durchnässt, bevor sie hinter Baldo und Lump die Treppe hinunterklettern und sich in einen der Laderäume retten konnte. Oben schlug jemand den Lukendeckel zu. Zwischen zusammengeschnürten Tuchballen und Pelzbündeln kauerten sie dicht beieinander und horchten auf das Geräusch der gegen die Schiffswand schlagenden Wellen. Der Hund fiepte und zitterte. Mehrmals mussten sie Kisten und Tuchballen ausweichen, die auf den nassen Planken hin und her rutschten, um dann mit einem dumpfen Krachen gegen die Schiffswände geschleudert zu werden.
Cristin stöhnte. Ihr Magen hob sich, ein Schwall Erbrochenes schoss aus ihrem Mund und klatschte auf die Planken. Über sich hörte sie das Geschrei der Seeleute, vermischt mit dem Brausen des Windes, der das Schiff schwanken ließ wie einen betrunkenen Zecher. Das Unwetter schien kein Ende nehmen zu wollen. Nach einer Weile ließen Wind und Regen endlich nach. Das Schiff hörte auf zu schlingern, an Deck wurde es ruhiger. Sie erhob sich, noch immer mit weichen Knien, und trat an die schmale Treppe, die auf das Vorderdeck hinaufführte. Jemand hatte die Luke geöffnet, und Cristin sah, wie sich die Sonne durch die Wolkendecke einen Platz zurückeroberte.
Kapitän Gottfried, ein kleiner, aber kräftig gebauter Mann mit roten Haaren, die sich am Hinterkopf bereits lichteten, schaute zu ihnen herab.
»Das Schlimmste scheint vorüber. Wenn ihr wollt, könnt ihr wieder raufkommen. Der Schiffskoch hat angeboten, ein Fässchen Wein und ein paar Laibe Brot an Deck zu schaffen, damit meine Mannschaft und ich uns stärken können. Setzt euch zu uns, ihr habt sicher Hunger.«
Allein der Gedanke, etwas essen zu müssen, löste Krämpfe in ihrem Bauch aus. Trotzdem war Cristin dankbar für Gottfrieds Angebot, waren ihre eigenen Vorräte nach der fast zweiwöchigen Reise doch so gut wie aufgebraucht. Baldo und sie kletterten die Treppe empor und gesellten sich zu einigen Männern, die auf dem Achterkastell saßen, Stücke von einem dunklen Brotlaib abrissen und hungrig
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