Die Graefin der Woelfe
Gemessenen Schrittes trat sie zur Gruft, in der Wenzel seine letzte Ruhestätte gefunden hatte. Sie kniete nieder, vergrub ihr Gesicht in den Händen und versuchte, die innere Ruhe zu finden, derer sie so dringend bedurfte. Sie sprach die Gebete, die sie kannte. Stand rastlos auf, wischte mit ihrem Spitzentuch über die Marmorplatte, die das Grab verschloss, kniete sich erneut. Ein schmerzendes Lächeln legte sich über ihr Gesicht. Vor ihrem inneren Auge sah sie ihn, wie er auf Schloss Torgelow zuritt, immer im Wechsel zwischen wildem Galopp und bedächtigem Schritt. Sie hätte so gern seine Hände wieder gespürt, sein Haar um ihre Finger gewickelt. Sehnsucht umhüllte sie, gesellte sich zu ihrer Einsamkeit und verstärkte sie. Sorgfältig schlug Amalia das Kreuz über Wenzels Grab, stand auf und verließ die Kirche durch den Haupteingang.
Der Schlossgarten wurde von milchigem Mondlicht erhellt. Es war wenige Tage vor Vollmond und die Sichel groß genug, dass sie Einzelheiten erkennen konnte. Die Bäume ihres Gartens warfen dünne Schatten, ein Wolf heulte. Einer alten Gewohnheit folgend hörte sie genauer hin. Das Tier klang gequält, einsam, hungrig. Amalia eilte zum Wolfsgehege. Wer hatte sich seit Jakobus’ Tod um die Tiere gekümmert?
Das grausame Bild, das sich ihr bot, war ihr Antwort genug. Nur noch zwei Tiere waren am Leben, sie befanden sich in erbarmungswürdigem Zustand. Im Gehege lagen unzählige abgenagte Knochen. Es schien, als hätten die Überlebenden sich von den Kadavern der Toten ernährt. Amalia öffnete das Tor, streckte die Hände vor und redete mit ruhiger Stimme auf die Tiere ein. Auch sie hatte sie vergessen. Mit noch immer ausgestreckten Händen sank sie auf die Knie. Die beiden Wölfe kamen zu ihr, legten ihre Köpfe vor ihr nieder und stellten die Ohren auf. Gerührt kraulte sie die Tiere. Wann war sie das letzte Mal der Kreatur so nahe gewesen? Wie hatte sie das alles vergessen können? Nicht nur die Wölfe hinter ihrem Schloss, sondern alles andere auch. Ihre Gabe, die Hunde, den treuen Quintus, dessen Grab unter dem alten Kirschbaum lag, und jeden anderen Hund, der bis zu dem verhängnisvollen Unfall wie selbstverständlich zu ihren Füßen gelegen hatte. Amalia lehnte ihre Stirn an das struppige Fell des Wolfes. Es war ihr, als söge sie aus den Tieren die Kraft, die sie brauchte, um ihr Leben wieder aufzunehmen. Mit jedem Atemzug spürte sie ihre Lungen sich weiten. »Danke«, flüsterte sie, als sie sich endlich erhob. Sie öffnete das Gatter und entließ die beiden Wölfe in die Freiheit. Es waren die stärksten des Rudels, die einzigen, die die vergangenen Wochen und Monate überlebt hatten. Sie würden sich durchschlagen können.
Zwischenzeitlich war der Mond am Himmel verschwunden. Bäume und Häuser auf ihrem Weg zeichneten sich als schwarze Schatten vor der dunklen Kulisse des Nachthimmels ab. Ohne Gedanken schritt sie vorwärts, den Schlossberg hinunter bis zum Friedhof. Knarrend öffnete sie das Tor und trat an Jakobus’ Grab. Sie konnte die Gegenwart des treuen Freundes beinahe spüren. Ergriffen sank sie auf die Knie, öffnete ihre Hände, sank tiefer, verschmolz nahezu mit der feuchten Erde, die das Grab bedeckte. Die Einsamkeit fiel von ihr ab. Ein alter Mantel, der auf einmal seinen Zweck verloren hatte. Die Stimme des treuen Weggefährten drang zu ihr durch.
»Leben Sie, Prinzessin, leben Sie für sich und für Elena Jakobine.«
Amalia fühlte die braunen Augen des Jägers auf sich ruhen, ihre Kinderhand in der seinen. Sie schluchzte auf, ihr Körper wurde vom Weinen geschüttelt. Noch immer hörte sie die beruhigende Stimme des Alten. Der treue Freund, der ihr so sehr ergeben war, dass er in schwerer Krankheit eine Amme für ihre Tochter gefunden hatte. Ein Mann ohne Fehl, der sie geliebt hatte, so wie sie war, trotz ihrer vermaledeiten Gabe, trotz ihrer Widerworte. Erneut schluchzte sie auf, mit jedem Seufzer mehr befreit. Sie würde leben, sie hatte ein Recht darauf, zu leben. Sie würde ihren Haushalt ordnen, ihre Tochter zurückholen. Amalia wollte wieder Gäste auf dem Schloss empfangen und Elena einen guten Mann suchen. Sie würde Wenzels Tochter und Jakobus’ Patenkind in eine glänzende Zukunft führen. Es gab so viel zu tun.
9. Kapitel
Frühjahr 1726
V erdammt mochte er sein, wenn er nicht bald wieder schlafen konnte. Dieses Kind war eine Plage der Hölle. Kräftig war er ja, der Junge, ganz sein Vater, aber er schrie den ganzen
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