Die guten Frauen von Christianssund: Sommerdahls erster Fall (German Edition)
seine Mutter vor einer halben Stunde. »Das war, als ich gerade Lillianas Leiche in der Küche gefunden hatte. Ich hatte mich über sie gebeugt, um zu sehen, ob … Und als ich mich wieder aufrichtete, ließ mich irgendetwas zu den Oberlichtern aufschauen. Du weißt schon, diese hohen Glaskuppeln auf dem Dach. Dort oben hat er gelegen und auf Lillianas Leiche heruntergeguckt.« Benjamin kniff die Augen zusammen. »Mich überkam Panik. Deshalb bin ich nach Hause gefahren, statt die Polizei zu rufen. Und deshalb hat meine Mutter mich auch gebeten, den Mund zu halten. Ich war mir sicher, dass er Lilliana umgebracht hat. Aber meine Mutter hat mir klargemacht, dass er es nicht gewesen sein kann. Er würde kaum eine Garotte benutzen, dafür liebt er seine Fäuste viel zu sehr. Und warum sollte er auf dem Dach liegen, wenn er gerade einen Mord begangen hat? Weglaufen wäre doch viel logischer.« Benjamin stand auf und ging auf und ab. »Wenn er verhaftet wird, weil ich seinen Namen kenne, findet er bald auch den Rest heraus. Und sollte er nicht der Mörder sein, würde man ihn blitzschnell wieder auf freien Fuß setzen. Was dann?«
»Du hast gesagt, du hättest ihn drei Mal gesehen?«
»Heute Vormittag, als ich aus der Untersuchungshaft kam, stand er vorm Eingang des Präsidiums, als würde er auf jemanden warten. Ich war sicher, dass er mich meinte. Schließlich hatte er mich in der Küche bei Lillianas Leiche gesehen. Vielleicht glaubte er, ich sei der Mörder und er könne mich erpressen. Vielleicht wollte er auch nur sichergehen, dass ich nichts über ihn erzähle.« Benjamin schritt rastlos den Teppich auf und ab. »Ich bekam einen derartigen Schrecken, dass ich auf der Treppe stehen blieb, und da konnte er mich dann genau sehen. Sein Gesicht hellte sich auf. Er lächelte und kam auf mich zu – und dann rief er ›Mark!‹. So heiße ich richtig. Er rief ›Mark!‹, und ich dachte, ich müsste sterben.«
»Was hast du gemacht?« Dan folgte der verzweifelt umherwandernden Gestalt mit den Augen. »Hast du mit ihm gesprochen?«
»Bist du wahnsinnig?« Benjamin blieb stehen und starrte Dan an. »Natürlich nicht! Ich bin gerannt, so schnell ich konnte. Durch die schmalen Gassen hinter dem Rathausmarkt hoch zum Millionärsviertel und in den Wald. Anfangs hörte ich, wie er mir nachlief und rief, aber ich bin ihm entkommen. Ein paar Minuten dachte ich, mit dem Schrecken davongekommen zu sein, doch dann ging mir durch den Kopf, wozu er in der Lage ist. Es würde ihm nicht einmal schwerfallen. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass er von seinen alten Kollegen Informationen bekäme, und im Polizeipräsidium, das er mich gerade hatte verlassen sehen, gibt es eine Menge Leute, die meinen neuen Namen und unsere Adresse kennen.«
»Oh.«
»Ja. Oh.« Der junge, schwarz gekleidete Mann drehte sich um. »
Get my point?
Es geht wieder los. Neuer Name, neue Stadt, neue Adresse, neuer Job. Es hängt mir zum Hals heraus.«
Donnerstag
Bei Tagesanbruch hatte sich der allererste Raureif des Winters als glitzernder Zauberstaub auf Grashalme, Zweige und Tannennadeln gelegt. Ähnelt einer Elfenlandschaft, dachte Benedikte. Sie ging langsam, mit gesenktem Kopf, und hörte dem feinen Knistern von Milliarden Frostkristallen zu, die unter ihren Gummistiefeln zerplatzten. Gut, dass Mutter die Dahlienknollen an diesem Wochenende ins Haus gebracht hat, dachte sie, sonst wäre es zu spät gewesen. Sie hob einen Kiefernzapfen auf. Eiskristalle überzogen eine Seite, während die andere, die auf der Erde gelegen hatte, braun und nackt aussah. Sie zog einen Fausthandschuh aus, legte den Zeigefinger auf die vereiste Seite des Zapfens und spürte, wie die Eisschicht sofort unter ihrem warmen Finger schmolz. Dann ging sie in die Hocke und legte ihre ausgestreckte Hand direkt auf den raureifüberzogenen Rasenstreifen. Die Kälte schoss kleine Nadeln in ihre Handfläche. Als sie die Hand wegzog, blieb ein etwas unscharfer grüner Abdruck in dem weißen Glitzern. Sie lächelte, ohne es selbst zu bemerken, als sie ihre Hand am Hosenbein abwischte und wieder in den warmen Strickhandschuh steckte.
Plötzlich fiel ihr auf, dass sie Futtes geschäftige Pfoten bereits seit einigen Minuten nicht mehr auf dem Waldweg gehört hatte. Er hatte auch nicht ein einziges Mal gebellt, seit sie vom Hauptweg abgebogen waren. Sie sah sich um. Normalerweise lief er nicht so weit weg. Sie rief ihn, erst leiser, dann kräftiger und schließlich laut. Der Zauber des
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