Die Heidehexe - Historischer Roman
weitab vor den Toren des Dorfes, wo die Unreinen wohnten, der Henker mit seinen Blutsknechten, Ungläubige, Geldverleiher und auch die Abdecker.
Sie roch im Geist den Gestank der Bretterbude, wo durch Ritzen und Löcher Wind und Wetter reisten, um sie heulend zu grüßen, die Tierbälge faulten und gärten, vom Fleisch gelöste Häute in Bottichen voll ätzender Gerbsäure versanken, derweil die Ziehmutter zeterte und wütete.
Das Mädchen sah die jüngeren Stiefgeschwister vor sich, mit Tränen aus Hungeraugen. Im Ohr hörte sie deutlich das Flehen der Kinder: „Isabella, schenkst du uns einen Knust Brot?“ Nein, die wollte sie nicht mehr enttäuschen.
Hinterm Hang hielt en die Geschwister inne, schauten auf die Oker und den Wald, der geheimnisvoll wisperte und buhlte. Verschwiegen dehnte sich das Moor, mit frühen Sumpfblumen an seinem Gestade. Wie blühten sie lieblich, wie lockte ihr Duft, und wie weich schmiegten sich Hügel in die Weite der träumenden Heide.
Isabella konnte nicht widerstehen. Barfuß lief sie voran. Dornenzweige im Buschwerk stachen, zerrissen Beine und Arme. Doch sie fühlte weder Schmerzen noch Kälte oder Furcht.
Es herrschte Friede . Hier hatten wohl die Götter ihr Zuhause, die vorm Glauben der Christen geflohen waren.
Nass reckte sich Schilf am Ufer. Am Boden unter den Bäumen duftete es nach Buschwindröschen. Isabella hockte sich nieder, pflückte einen Strauß, mischte ihn mit Veilchen, flocht daraus einen Kranz. Sie steckte ihn mit den Zöpfen auf dem Kopf fest und trug ihn wie eine Brautkrone. Ehrfürchtig beobachtete Bernhard die Schwester. „Du … bist … schön … Isabella“, stammelte er, „soll Mama … sich freuen?“
„Ja, das soll sie“, sagte das Mädchen leise. Und dann brach es aus ihr heraus, all das Weh, die Trauer, das Leid. Sie warf sich auf die feuchte Erde und weinte laut. Durchdringend schrie sie ihren Schmerz in die Einsamkeit. Krämpfe schüttelten den zarten Körper.
Bernhard stand wie angewurzelt. „Isabella … Isabella“, rief er. Sie gab keine Antwort, stieß nur noch heftigere Schreie aus und schlug um sich.
Da legte er sich neben sie ins Gras, brüllte zur Gesellschaft mit, riss die Blümchen aus dem Waldboden, zerfetzte sie und warf sie auf Isabellas Rücken.
„Nicht, Bernhard, hör auf damit“, schluchzte sie, warum tust du das? Du bist ungezogen. Schäm dich.“
„Bernhard … nicht böse … Isabella … böse.“
„Wieso sagst du, dass ich böse bin?“
„Isabella schreien … und schreien … Aufhören!“
Obwohl sie längst bluteten, hieb der Junge mit den Fäusten auf die umstehenden Kastanienbäume ein. Sein Kopf war hochrot und seine Glieder zuckten unkontrolliert.
Isabella bekam Angst um den Bruder, unterdrückte das Schluchzen, barg seinen glutheißen Körper in ihrem Rock, streichelte ihm zärtlich das Gesicht.
„Isabella war nur traurig, mein Liebling. Darum hat sie geweint. Aber jetzt ist es vorbei.“
„Was … ist vorbei?“
„Die Traurigkeit. Alles wird gut. Glaub mir, mein Schatz, alles wird gut.“ Aus der Kitteltasche fingerte sie ein Fläschchen mit Beruhigungssaft, den ihre Mutter aus Johannisbeerkraut, Flieder und Hopfen bereitet hatte, flößte ihn dem Bruder in den Mund, summte ihm Wiegenlieder vor.
Auf einem Ast der nahen Erle saß Pavor, nickte und krächzte: „Alles wird gut.“
Bernhard lächelte, steckte den Daumen zwischen die Lippen und schlief nach wenigen Minuten ein. Kurze Zeit hielt das Mädchen ihn noch in den Armen, dann schob sie ihre Jacke unter seinen Kopf, streifte den Kittel ab und deckte ihn damit zu.
Sie selbst musste sich die schmerzenden Beine vertreten, stromerte die Böschung entlang und versuchte, die wirren Gedanken zu ordnen, lauschte dem Gesang der Zugvögel, die nach dem langen, harten Winter aus südlicheren Gefilden in die Heimat zurückkehrten und ihre Freude darüber mit lieblichen Liedern ausdrückten. Dabei entfernte sie sich immer weiter vom Lagerplatz, wo ihr Bruder den Schlaf des Gerechten schlief.
Auch sie wurde nach der schlaflosen Nacht und ihrem heftigen Gefühlsausbruch von Müdigkeit übermannt. Nur ein Weilchen hinsetzen, dachte Isabella, nur sitzen, fernab vom Weltgeschehen, allein mit der Natur und dem Waldgetier. Und das Röhricht umarmte das Mädel, hüllte es ein, wärmte es auf. I sabella tauchte ein in jene Welt zwischen Wachen und Träumen.
Matt fielen die Strahlen der Frühlingssonne auf die ruhelos plätschernde Oker, ließen
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