Die heilige Ketzerin: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Respekt vor Agnes, als dass ich zulassen würde, dass du sie zu etwas verführst, was sich nicht geziemt.«
Ludolf hatte es versprochen, obwohl der Rat unnötig gewesen war. Er wusste nur zu gut, wie Agnes dachte, und würde ihr das nicht antun. Die vier Wochen bis zur Hochzeit sollten noch zu ertragen sein – so gerade noch.
Der junge Mann lief ganz aufgeregt in der kleinen Kammer im Burgsitz des Klosters Möllenbeck umher. In seinem Kopf tanzten seine Gedanken so wild und ausgelassen, dass er sich nicht mehr konzentrieren konnte. Dabei musste er seine angesetzten Lösungen und Experimente noch kontrollieren. Zum Glück hatte sein Vater alle nötigen Salze und Materialien besorgen können. Vor allem das benötigte Eisenöl 32 hatte er bei einem Bader gefunden.
Die ersten Vorbereitungen waren gestern schon getroffen worden. Der klaren, rötlich-orangen Lösung aus Eisenöl und Wasser hatte Ludolf pulverisierte Eierschalen hinzugefügt. Wegen der Reaktion – die Mischung begann zu schäumen – musste die Zugabe langsam und unter Rühren geschehen. Die Lösung verfärbte sich dunkelbraun.
Dann kam die Schafsblase zum Einsatz. Es hätten auch ein Darm oder eine Blase von einem anderen Tier sein können. Aber je dünner das Material war, desto besser. Die Blase hatte Ludolf zur Hälfte mit der Mischung gefüllt und anschließend in einen Krug mit Regenwasser gehängt. Es musste sauberes, frisches Regenwasser sein. Fluss- oder Brunnenwasser hatte schon zu viele Salze aus dem Boden gelöst und wäre zu hart für die Herstellung. Die Füllhöhen vom äußeren Wasser und dem Blaseninhalt mussten immer gleich gehalten werden; denn das Wasser floss in die Blase hinein, während die Salze herausgelangten. Das Regenwasser wurde drei- bis viermal gewechselt, bis es nicht mehr gefärbt war.
Das war an diesem Abend der Fall. Ludolf füllte ein wenig in ein Glasgefäß, um es gegen den Lampenschein zu prüfen – die Trübung war kaum noch zu erkennen. Er reicherte die gewonnene Lösung nun durch Eindampfen an. Einen Teil des Konzentrats goss er in eine kleine Glasphiole. Dann setzte er eine winzige Menge Kochsalz zu und schüttelte es ausgiebig. Nun musste die Mischung für eine gewisse Zeit ruhig stehen, um zu sehen, ob das Experiment geglückt war. Falls nicht, müsste er später noch etwas Salz hinzufügen.
Ludolf hatte während seiner Studien in Hildesheim schon einige Male diesen Herstellungsprozess vorgenommen, sodass er die Rezeptur gut beherrschte. Zum Glück hatte er sauber gearbeitet, und das Material war einwandfrei gewesen. Also glückte der Versuch auf Anhieb. Er war mit sich und der Welt sehr zufrieden.
Nachdenklich nahm er das Kruzifix zur Hand.
»Wenn ich nur wüsste, welches Geheimnis hinter dir steckt«, murmelte er vor sich hin. »Du bist nicht lebendig, du bist tot – tot wie ein Kiesel. Warum weinst du also? Oder bist du von einem Geist besessen, der uns alle an der Nase herumführt?«
Nachdenklich betrachtete Ludolf das Kreuz mit der Statue zum wiederholten Mal von allen Seiten. Aber ohne Ergebnis. Im Schein des schwachen Lichts konnte er sowieso nicht viel erkennen. Ärgerlich warf er die Plastik auf den Tisch. Polternd schlug sie gegen den Krug mit dem Regenwasser. Ein Stück des Kopfes flog quer über den Tisch und drohte herunterzufallen. Im letzten Moment konnte Ludolf es noch auffangen.
Er fluchte leise vor sich hin. »Hoffentlich ist das Teil noch zu reparieren. Sonst bekomme ich noch Ärger, weil ich es aus Marias Wohnung mitgenommen habe.«
Mit hastigen Handgriffen versuchte er, den abgebrochenen Teil des Kopfes wieder anzupassen. Er passte tadellos. Zum Glück war nur ein Stück abgebrochen und nicht mehrere. Das zu reparieren sollte kein Problem sein. Ein bisschen Baumharz, und der Bruch fiele keinem mehr auf. Die nächste Stunde verbrachte er mit der Untersuchung und der Reparatur des Kruzifixes.
Erst spät in der Nacht legte sich Ludolf zur Ruhe. Zu viele Gedanken schwirrten ihm noch durch den Kopf: weinende Christusfiguren, göttliche Eingebungen, Visionen, übernatürliche Erscheinungen. Was konnte man glauben? Was war wirklich ein Wunder und was nicht? Doch mit der Zeit wurden diese Grübeleien von süßen Gedanken an Agnes verdrängt. Irgendwann weit nach Mitternacht schlummerte er sanft ein.
Eine Leidensgeschichte
Sonnabend, 11.8.1386
An diesem Morgen fühlte sich Agnes erfrischt und befreit. In der Nacht hatte sie erholsame Ruhe gefunden und war nicht mehr durch
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