Die Herzen aller Mädchen
Schluck besser.
»Wie kann ich das?«, fragte Gregor.
Beschaff das Buch wieder und lass mich die Kommentare lesen, dachte Bettina. »Wir brauchen alles, was dein Vater zu seiner Romreise geschrieben hat.«
»Kein Problem.« Mit einer schnellen katzenhaften Bewegung, die Bettina an Marny erinnerte, stand Gregor auf und ging in sein Arbeitszimmer. Kurz darauf kam er zurück und trug ein schwarz gebundenes, dickes Buch in Händen. Das hielt er Bettina aufgeschlagen hin. »Hier. Mehr gibt es nicht.«
Es war die Biografie Georg Krampes. Bettina nahm ihm das Buch aus der Hand und überflog das aufgeschlagene Kapitel. »Rom«, stand darüber, es begann mit einem Zitat aus Fellinis La dolce vita und ein paar launigen Bemerkungen über Hochzeitsreisen und weshalb ausgerechnet die Ewige Stadt sich dazu anbot. Dann folgten leichte Betrachtungen römischer Sehenswürdigkeiten. Es klang gewollt hinhaltend, als hätte der Autor das Bedürfnis gehabt, etwas zu erzählen, ohne es wirklich zu tun, als gäbe es eine innere Geschichte, die irgendwo zwischen den Seiten geisterte, verdeckt vom Forum Romanum, dem Circus, der Spanischen Treppe, dem Lido von Ostia, den Bars, Restaurants, Kirchen, Kirchhöfen, dem Geruch der Stadt. Es war eine charmante Art, die eigenen Flitterwochen zu beschreiben, mit Raum für jegliche Phantasie des Lesers. In Wahrheit wurde gerade die benutzt. Denn niemand konnte ahnen, dass etwas schiefgelaufen war. Dass es eine Störung gegeben hatte, einen Auftrag, einen Ehebruch und einen Tod. Ein Kind war gestorben.
Bettina rückte tiefer in die Couch, das Buch auf dem Schoß, ihr Weinglas in der Hand. Es war schwierig, sich zu konzentrieren, wenn Gregor zusah, er saß und betrachtete sie ernst, und der Text tat ein Übriges, führte frei in alle möglichen Richtungen, das süße Leben in der Stadt der Städte, der ideale Morgenkaffee, die Grabinschrift eines fremden Kindes. Bettina hätte sie fast überlesen. Erst als sie von ihr zu den Geheimnissen des Blondhaars bei Südländerinnen gerissen wurde, dachte sie, dass sie den Text doch kannte. Dann erkannte sie, dass es Latein war und nicht Italienisch. Dann sah sie Gregor an. Sie befeuchtete ihre Kehle mit etwas Bordeaux und las laut:
»Eine Eigenart der Römer, vielleicht der ganzen Nation, ist es, ihre Toten in hohen Häusern übereinanderzustapeln. Wir sahen einige dieser steinernen Totenschränke, lange Gänge mit unendlich vielen Fächern zu beiden Seiten, wabenartige, dicht zusammengerückte Ruhestätten, an jeder eine Steintafel und ein Name und eine Fotografie in einem kleinen Eisenrahmen. Der überwältigende Geruch von verwesenden Blumen liegt über alledem. Es ist ein enger Tod, der in Italien gestorben wird. Doch zwischen alldem blumigen Gräuel hängt irgendwo das Bild eines Kindes. Über ihrem Mädchengesicht ist Ruhe. Sie muss der Trost aller sein, die verzweifelt an ihr vorüberkommen, sie lächelt den traurigen Passanten zu, sie ist ein Engel, die kleinste Botin des Himmels. Auf ihrer Tafel steht folgende Inschrift: Munus habe caelum: caelo spectabere sidus.«
Bettina blickte auf.
»Ich wusste, dass ich das anderswoher kenne«, sagte Gregor, der sich anscheinend keinen Zentimeter bewegt hatte.
»Vielleicht «, las Bettina weiter, »ist es eine Gnade, zu sterben, wenn die Welt sich gerade so zauberisch und wunderbar im Gesicht eines Wesens spiegelt. Vielleicht ist alles Leben nach diesem herrlichen Moment eine Illusion. Kann man weiter kommen als bis in den Himmel? Die kleine Angelina mit dem blonden Haar ist sicher der schönste Stern am reichen italienischen Himmel, das reinste Wesen, der strahlendste Engel. « Wieder sah sie auf. »Kann man weiter kommen als bis in den Himmel?«
Gregor seufzte und verdrehte die Augen. »Das ist der Ton meines Vaters. Übel, ich weiß. Manchmal ging es mit ihm durch. Aber ganz so sentimental war er im wahren Leben dann doch nicht.«
»Im wahren Leben«, sagte Bettina und stellte bedächtig ihr Glas ab, »hatte Anna Oberhuber, die damals noch Ritrovato hieß, eine kleine Schwester. Rate, wie sie hieß.«
Gregor riet nicht. Er kippte seinen Whiskey.
»Richtig. Angelina. Die Ritrovatos lebten in Rom, und sie hatten Kontakt zu deinen Eltern, als die sich 1966 dort aufhielten. Im Juni dieses merkwürdigen Jahres starb die kleine Angelina im Alter von vier Jahren. Ihr Tod war keine Gnade. Sie ertrank am Lido von Ostia.« Bettina blickte auf das Buch in ihrem Schoß. »Warum«, fragte sie leise, »hat sich
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