Die Hexe von Freiburg (German Edition)
stellte sich, nachdem die Vorlesung beendet war, auf die Bank und bat Ordinarius und Studenten um Gehör.
«Verzeiht meine mangelnde Zurückhaltung, ehrwürdiger Professor Martini, ich weiß, es ziemt sich nicht für einen Studenten, das Wort zu ergreifen, doch wenn Ihr erlaubt, möchte ich zum Punkt der Folter noch einen Gedanken vorbringen, der mir seit langem keine Ruhe lässt.»
Erstaunt blickte der Ordinarius Professor Friedrich Martini den Jungen an, auf dessen Wangen sich vor Aufregung rote Flecken bildeten. Dann nickte er gnädig.
«Danke, ehrwürdiger Professor.» Anselms Stimme wurde lauter und fester. «Wir, die wir das Recht studieren, wissen alle, dass die Constitutio Criminalis Carolina eine Wiederholung der Folter untersagt. Um nun eine mehrfache Folter zu rechtfertigen, betrachtet man erstens den Hexenprozess als crimen extraordinarium, das durch die Natur der Sache außerhalb aller bisher geltenden Vorschriften steht oder, anders ausgedrückt, für das die üblichen Verfahrensrichtlinien nicht mehr gelten, und zweitens nennt man die immer wieder aufs Neue ausgeführte Tortur einfach Fortsetzung der Folter. Durch diese Konstruktion steht unser processus ordinarius immer fest auf der Grundlage der Carolina. So weit, so gut. Jedoch, und jetzt komme ich zum Kern meines Gedankens, wird eines bei dieser Argumentation niemals infrage gestellt: Die Bedeutung der Folter für die Wahrheitsfindung.»
Im Auditorium breitete sich Unruhe aus.
«Soll ich den Burschen vor die Tür setzen?», rief der Pedell dem Dekan zu.
«Nein, wartet, der Junge ist mir schon seit langem ein Dorn im Auge. Ich will hören, was er zu sagen hat.»
Anselm räusperte sich und fuhr dann fort: «Wie kann die peinliche Befragung der Wahrheitsfindung dienen, wenn jede Verhaltensweise dem Verdächtigten zum Nachteil gereichen kann? Gesteht der Angeklagte schnell, dann ist er überführt, übersteht er die Tortur, ist er ein besonders verdammenswerter Fall, der mit Satans Hilfe oder durch eigene Hexenkünste Schmerzunempfindlichkeit erlangt hat. Wird ein Hexenmal gefunden und angestochen und es fließt kein Blut, wird dies als stigma diaboli gedeutet, fließt jedoch Blut oder wird kein Mal gefunden, kann dies als Beweis gewertet werden, dass es sich um eine besonders treue Hexe handelt, die solche Erkennungszeichen nicht nötig hat. Gleiches gilt für die Tränenprobe. Was hat ein solchermaßen angewandtes Prozessmittel noch an Beweiskraft? Hinzu kommt, dass der ursprüngliche Sinn der Folter verloren geht. War es doch bisher so: Entweder gestand der Angeklagte sein Vergehen, oder aber er überstand die Marter und hatte sich damit von jeglichem Verdacht reingewaschen. Eine zu Unrecht als Hexe angeklagte Frau hat jedoch keine Möglichkeit, ihre Unschuld zu beweisen!»
Anselms letzte Worte waren kaum noch zu hören in dem Tumult, der entstanden war.
«Unerhört!» – «Aufhören!» – «Hexenfreund!» – «So jemand will einmal Recht sprechen, haut ihm eins aufs Maul!»
Auf ein Zeichen des Dekans hin schritt der Pedell zu Anselm, drehte ihm den Arm auf den Rücken und wollte ihn hinausführen. Doch Anselm wehrte sich mit aller Kraft, sodass zwei kräftige Kommilitonen zu Hilfe eilen mussten. Sie schleppten ihn in den fensterlosen Karzer, wo er zitternd eine eiskalte Nacht auf dem blanken Steinboden verbrachte. Erst gegen Mittag, nachdem die juristische Fakultät ihr Urteil über ihn gefällt hatte, ließ man ihn frei.
Catharina war nicht entgangen, dass Anselm die Nacht außer Haus verbracht hatte. Um sich zu beruhigen, sagte sie sich, dass er bei irgendeiner Frau stecken mochte oder mit seinen Kommilitonen zu viel gezecht hatte. Doch im Grunde glaubte sie selbst nicht daran, denn der Junge war so gut wie nie nach Läuten der «Mordglocke», die um elf Uhr nachts für die Studenten der Stadt den endgültigen Zapfenstreich verkündete, heimgekehrt.
Als er am nächsten Abend vor ihr stand, war ihr sofort klar, dass etwas Schlimmes geschehen sein musste: Sein Gesicht war bleich wie Wachs, die linke Wange blutig verschrammt, und seine Augen blickten stumpf und maßlos enttäuscht. Müde setzte er sich an den Küchentisch. Nachdem er erzählt hatte, was vorgefallen war, fragte sie erschrocken: «Und was geschieht jetzt?»
«Man hat mich exmatrikuliert. Ich hätte heute Morgen meine Ausführungen noch widerrufen können, öffentlich, vor allen Studenten und Professoren, versteht Ihr? Doch ich habe mich geweigert, und jetzt reut mich
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