Die Hudson Saga 02 - In dunkler Nacht
konnte, jeden Schmerz zu bekämpfen. Sie trug seine Kraft wie eine Rüstung und hatte nie Angst vor der Dunkelheit.
Vielleicht kamen die köstlichsten Momente ihres Lebens viel später, wenn sie eine junge Dame war und einen Mann suchte, den sie ebenso lieben konnte wie ihren Daddy. Selbst wenn sie solch eine Person
fand, würde sie sich an ihren Vater wenden, um sich ihrer Entscheidung sicher zu sein, und wenn sie ihn anschaute, würde sie feststellen, dass er in ihr immer sein kleines Mädchen sah. Nicht eine Million Schläge der Uhr, keine noch so lange Reihe von Geburtstagen konnte das ändern, und wenn sie ihn dazu brachte zu sagen, dass sie nicht länger ein kleines Kind war, würde sie dahinter ein Lächeln sehen, das sagte: »Aber du wirst immer mein Baby sein.«
Ich wollte auch einen Daddy haben, und sei es nur für eine Stunde. Deshalb beschloss ich spontan, dass ich am Sonntag zu meinem Vater gehen würde. Bevor ich nach Hause ging, blieb ich an einer Telefonzelle stehen und rief bei ihm zu Hause an. Seine Frau kam ans Telefon und sagte, er sei noch nicht zu Hause.
»Kann ich ihm vielleicht eine Nachricht notieren?«, fragte sie.
»Ja. Sagen Sie ihm, Rain Arnold hätte angerufen. Ich werde am Sonntag zum Tee kommen.«
»Rain Arnold?«
»Ja, Ma’am.«
»Okay«, sagte sie mit einem kleinen Lachen in der Stimme. »Dann bis Sonntag.«
Mein Herz klopfte wieder. Machte ich gerade einen schrecklichen Fehler? Offensichtlich hatte er mich ihr gegenüber nicht erwähnt. Hatte er erwartet, nie wieder von mir zu hören oder mich nie wieder zu sehen? Enttäuschte ich ihn?
Sobald ich nach Hause kam, setzte ich mich in
mein Zimmerchen und schrieb, weil ich noch etwas Zeit hatte, einen Brief an Großmutter Hudson.
Liebe Großmutter …, begann ich und lächelte in mich hinein, als ich mir vorstellte, wie sie auf diese Anrede reagieren würde.
Ich habe dir etwas Wichtiges zu erzählen und möchte dich deshalb um Rat fragen. Mit Hilfe eines Freundes an der Schule ist es mir gelungen, anhand der geringen Informationen, die meine Mutter mir gegeben hatte, meinen leiblichen Vater aufzuspüren. Er ist Englischprofessor geworden, der sich auf Shakespeare spezialisiert hat. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder, eine Tochter und einen Sohn. Ich habe ihm einige Zeit hinterherspioniert. Ich konnte nicht anders. Denn ich wollte ihn sehen, mehr über ihn erfahren. Ich besuchte sogar eine seiner Vorlesungen, wurde aber entdeckt. Wir tranken einen Tee zusammen und ich erzählte ihm, wer ich wirklich bin. Natürlich war er schockiert, und im Augenblick möchte er genau wie meine leibliche Mutter, dass ich alles geheim halte. Er hat mich trotzdem zu sich nach Hause eingeladen, und ich habe beschlossen hinzugehen.
Mache ich einen schrecklichen Fehler? Soll ich zulassen, dass er möglicherweise die Entscheidung trifft, es seiner Frau zu enthüllen? Soll ich einfach weggehen und versuchen, ihn zu vergessen? Was meinst du, würde meine Mutter dazu sagen, wenn sie das alles herausfände? Natürlich will ich dich nicht aufregen, aber ich habe hier niemanden, dem ich vertrauen kann oder der klug genug ist, mir einen Rat zu erteilen.
Bitte denke darüber nach und lass mich wissen, was du mir zu tun rätst.
Ich vermisse dich und freue mich darauf, dass du wie versprochen herkommst. Ich hoffe, du tust, was die Ärzte sagen, und bist nicht so halsstarrig, damit deine Genesung nicht hinausgezögert und eine Reise nach England unmöglich wird.
Bestelle Jake bitte Grüße von mir.
PS: Natürlich weiß deine Schwester nichts davon, aber ich frage mich, wie lange es noch dauert, bis Victoria es ihr mitteilt. In Liebe, Rain
Ich steckte den Brief in ein Kuvert, verschloss ihn, adressierte ihn und versteckte ihn in meinem Textbuch, um ihn am nächsten Tag auf dem Weg zur Schule aufzugeben.
Als ich hinterher die Küche betrat, um beim Abendessen zu helfen, teilte Mrs Chester mir mit, dass Mary Margaret heute nicht arbeitete.
»Das arme Mädchen hat sich den Magen verdorben und musste schnell wieder nach Hause. Hat wohl so’nen Erkältungsvirus erwischt«, meinte sie. »Wir haben also viel zu tun. Mr Endfield hat einen Geschäftsfreund und seine Frau heute zum Abendessen eingeladen. Ich mache gedünsteten Lachs. Deck den Tisch für vier«, ordnete sie an, und ich machte mich an die Arbeit.
Da Mary Margaret abwesend war, wich Boggs uns gar nicht mehr von der Seite. Er machte mich nervös
mit seinen Furcht einflößenden Blicken, wie er
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