Die Hudson Saga 03 - Dunkle Träume
bringen«, fügte sie hinzu. Wie eine hartnäckige Erinnerung war ihr Gewissen an die
Oberfläche gestiegen, das sich weigert, unter der schweren Schicht ihres Zorns und ihres Egos ruhig liegen zu bleiben. »Aber ich habe eine neue Stelle bei jemandem, der mich nötiger braucht, und ich habe versprochen, heute Nachmittag dort anzufangen.«
»Dann halten Sie Ihr Versprechen«, murmelte ich trocken.
»Sie sind ein böses Mädchen, dass Sie nicht auf Ihre Tante hören.Victoria ist eine sehr kluge Frau, und Sie werden ein armer Wurm sein, wenn Sie nicht auf sie hören.«
»Sie meinen ein noch ärmerer Wurm, nicht wahr? Ich bin bereits eine arme Seele.«
Sie schüttelte den Kopf, presste die Lippen aufeinander und blies die Backen auf, dass ihre Augen zu kleinen dunklen Halbkreisen schrumpften.
»Ich habe das Haus geputzt und reichlich zu essen dagelassen. Sie werden gut zurechtkommen, wenn Sie bald jemanden finden.«
»Danke«, sagte ich, »aber ich werde auch gut zurechtkommen ohne jemanden.«
»Das bezweifle ich«, murmelte sie. Sie wollte sich abwenden, als ich meinen Rollstuhl in ihre Richtung drehte. Meine plötzliche Bewegung überraschte sie und ließ sie zusammenzucken.
»Mrs Bogart, Sie sind eine kompetente Hilfe. Ich bin mir sicher, dass Sie Ihrem nächsten Patienten von großem Wert sein werden. Aber Behinderte so wie ich haben noch andere Bedürfnisse
außer Essen, Trinken und einem Dach über dem Kopf.
Ich hoffe, Sie nehmen etwas von dieser Erkenntnis mit zu Ihrer nächsten Anstellung und Sie sind keine so strenge Richterin, nur weil Sie laufen können.«
Sie schüttelte den Kopf mit einem Ausdruck, der beinahe an Wertschätzung, nicht nur an Erstaunen erinnerte.
»Wo haben Sie bloß all diese Sturheit und Halsstarrigkeit her?«, fragte sie. »Selbst in Ihrem Zustand?«
Ich lächelte.
»Meine Stiefmutter schaute nie auf jemanden herab, ganz gleich wie erbärmlich er wirkte.«
Sie zuckte die Achseln wie ein großer Vogel, der sein Gefieder aufplustert, und packte ihre Taschen. Dann marschierte sie aus dem Haus. Das Schließen der Tür hallte durch den Flur wider und verklang in einer Ecke. Ich holte tief Luft, schloss die Augen und sagte mir, dass ich wirklich gut zurechtkäme. Ich konnte selbst tun, was auch immer ich tun musste.
Austin rief an, um sich zu erkundigen, wie es mir ging. Er wusste, dass Mrs Bogart ging. Ich versicherte ihm, dass es mir gut ging, und er versprach, dass er so bald wie möglich nach der Arbeit vorbeikommen würde. Ich verbrachte den größten Teil des Tages damit, das Haus so zu organisieren, dass ich überall leichter Zugang hatte, und ein Inventar
meiner Vorräte anzulegen. Und dann, weil es ein so außergewöhnlich schöner Nachmittag war, fuhr ich auf die hintere Veranda. Dort trank ich Limonade und beobachtete die Vögel, die von Baum zu Baum flatterten. Sie wirkten so aktiv, so eifrig damit beschäftigt, sich auf den Wechsel der Jahreszeiten vorzubereiten.
Mama sagte immer, dass Vögel voller Tratsch steckten, weil sie den ganzen Tag auf den Telefondrähten hockten und sich alle Unterhaltungen anhörten. Ich lachte, als ich mich daran erinnerte, wie wir beide aus dem Wohnungsfenster auf die Straße hinunter schauten.
Es fiel mir auf, wie seltsam es war, dass ich vorher noch nie hier gesessen hatte, um die Vögel zu beobachten und ihre Anmut und Schönheit zu bewundern. Hier waren so viel mehr als in der Stadt. Als ich sie beobachtete, wurde mir klar, dass Bewegung Teil ihres Wesens war. Ein Vogel, der seine Kraft zu fliegen verlor, war nicht länger ein Vogel. Er war etwas anderes, viel weniger.
War ich auch etwas anderes? War ich viel weniger? Hatten Mrs Bogart und Tante Victoria Recht, dass ich nicht angemessen für mich selbst handeln konnte, weil meine Bewegungen so eingeschränkt waren? Ich weigerte mich, das jetzt zu glauben.
Dank Austin hatte ich wieder Selbstvertrauen geschöpft. Ich konnte schreiben und denken und kochen und putzen und mich um meine Grundbedürfnisse kümmern. Ich konnte Auto fahren und
ich konnte fast überall hin. Vor allem konnte ich lieben und geliebt werden.
Nein, sie hatten Unrecht. Jetzt, da Mrs Bogart weg war, fühlte ich mich wieder gut. Ich fühlte mich für mich selbst verantwortlich, und das gab mir meine Würde und meine Identität zurück. Gut, dass ich euch alle los bin, dachte ich trotzig. Ich würde wieder wie die Vögel sein, frei, anmutig, zufrieden.
Als ich hörte, wie jemand vorfuhr und das Haus betrat,
Weitere Kostenlose Bücher