Die Hudson Saga 04 - Im Schein des Mondes
sein, dass sie es hier unten geschrieben hat?«, fragte er.
»Wegen des ersten Satzes«, erwiderte ich. Er wartete, ich blätterte zurück und las vor:
Nachdem Fletcher gestorben war, sagte ich Ed, dass der einzige Ort im Haus, an dem ich die Stimmen nicht hörte, unten im
Keller war. Am Anfang hörte ich die Stimmen nur nachts, aber nach einer Weile hörte ich sie selbst bei Tag wispern; deshalb machte er mir den Kellerraum fertig, damit ich einen sicheren Ort hatte, wann immer ich ihn brauchte. Er baute mir sogar eine kleine Küche ein.
Ich hielt inne und schaute Harley an. Er biss sich auf die Unterlippe und schaute verblüfft drein. Ich schaute wieder in das Tagebuch.
Er sagte: »Komm hoch, wann immer du willst , Francine .«
Ich lächelte ihn an und schüttelte den Kopf . Er wusste es. Er wusste es ganz genau.
Ich würde nie wieder nach oben kommen.
Harley und ich schauten einander an.
Würde es uns genauso ergehen?
KAPITEL 14
Großmutters Tagebuch
H ast du Hunger?«, fragte Harley mich. Nach dem, was mein Magen mitgemacht hatte, war mir nicht danach, mehr als Wasser zu mir zu nehmen. Aber ich hatte etwas Tee gefunden und wollte mir eine Tasse zubereiten. Der kleine Elektroherd funktionierte.
»Im Augenblick gönne ich meinem Magen lieber ein bisschen Ruhe, Harley. Mir geht es schon viel besser, und ich will kein Risiko eingehen, besonders unter den gegebenen Umständen«, betonte ich.
»Ich kann es nicht ändern, ich habe Hunger. Das Dörrfleisch kann doch nicht vergiftet sein. Es ist doch noch in der Verpackung. Ich hole mir das und schaue mal, ob sie mittlerweile zu Verstand gekommen sind und die Tür schon geöffnet haben«, sagte Harley und ging zur Treppe, während ich etwas Wasser kochte. Er kehrte mit dem Karton zurück, den sie uns hingestellt hatten.
»Die Brötchen sind nicht schlecht«, sagte er, während er auf einem kaute. »Sie können ja nicht vorhaben, uns zu vergiften. Du musst wirklich etwas in den Magen bekommen, Summer«, beharrte er. »Du kannst nicht den ganzen Tag weitermachen nur mit etwas Tee.«
»Okay«, sagte ich. Ich knabberte an einem Stück und trank dann etwas Tee.
»Die Tür ist immer noch verschlossen«, sagte er. »Ich habe gelauscht, aber nichts gehört. Er wird wohl zur Arbeit gegangen sein und uns bei ihr zurückgelassen haben. Ich habe gegen die Tür geklopft und gerufen, aber niemand hat reagiert.«
Ich nickte und schaute wieder in das Tagebuch.
»Möchtest du noch mehr davon hören?«, fragte ich.
»Warum nicht. Hier gibt es ja nicht viel zu tun, bis ich mir etwas überlegt habe«, sagte er und setzte sich neben mich auf das Sofa.
Ich warf ihm einen Blick zu und sah, dass er entspannt und bereit war. Ich schlug das Heft auf und begann:
Ed wird immer wütender auf mich, ich weiß. Er kann nicht verstehen, warum ich nicht mehr ausgehen möchte. Er erzählt mir ständig von Leuten, die sich nach mir erkundigen, aber ich weiß, dass er das nur erfindet. Keiner der Leute, die er erwähnt, hatte sich je die Mühe gemacht, nach mir zu fragen, bevor ich aufhörte auszugehen.
Ich lasse ihn immer weiter darüber reden. Er braucht das – so zu tun als ob. Er hatte das schon immer mehr gebraucht als ich. Jahrelang erzählte er den Leuten, dass Fletcher sich so prima machte. Er erfand so viele Geschichten über ihn, dass ich Schwierigkeiten hatte, sie alle im Gedächtnis zu behalten, und manchmal sprachlos war über die Fragen und Kommentare der Leute.
Einmal erzählte er den Leuten, dass Fletcher bei einer Firma arbeitete, die in Saudi-Arabien ein Telefonsystem installierte,
und deshalb nie hier sei. Dann erzählte er ihnen, er sei bei der Armee und befände sich in Brasilien. Ich glaube, die meisten Geschichten entsprangen Eds eigener geheimer Fantasie.
Die Wahrheit war, dass Fletcher nie irgendetwas tat, das so aufregend und glanzvoll war wie irgendetwas, das Ed beschrieb. Wenn Fletcher jemals anrief, dann von irgendwo unterwegs aus einer Stadt im mittleren Westen oder Osten, wo er ein paar Monate lang einen Job gehabt hatte, bis er sich entweder gelangweilt hatte oder gefeuert worden war und auf dem Weg war irgendwo anders hin. Seine Zukunft war immer nur ›irgendwo anders‹.
Ich weiß, dass Fletcher so war, weil Ed ihn so eitel gemacht hatte, dass er glaubte , er sollte immer derjenige sein, der das Sagen hatte, und dass er mehr wisse als irgendjemand sonst. Deshalb geriet er auf der Schule in solche Schwierigkeiten, dass er sie verlassen musste.
Ed
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