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Die Hure und der Henker

Die Hure und der Henker

Titel: Die Hure und der Henker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Arlt
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wieder
abgeführt. Die Fama sagt Ja; jetzt sagt sie Nein.«
    Sie ließ
Valentin los, schlug das Buch bestürzt zu, drehte es hin und her, schlug es
erneut auf, blätterte vorwärts, rückwärts, las hier, las da, begriff langsam,
was man ihm antat:
    »R: So viele prächtige und
wahrscheinliche Worte sind also nichts?
    O: So sagt
die Fama.
    R: Diese
Frömmigkeit und Bescheidenheit haben also betrogen?
    O: So sagt die Fama.
    R: So
viele glaubwürdige Zeugen und Verteidiger haben also getäuscht?
    O: So sagt
die Fama.
    R: So
viele fein spürende Menschen sind also hintergangen worden?
    O: So sagt die Fama.«
    Betrogen,
getäuscht und hintergangen, sagte damals die Fama.
    Valentin war
wieder allein. Es gab für ihn keine Brüder. Es gab nur diese Gewissenhaftigkeit
um ihn herum, die mit Gewissen nichts zu tun hatte, weil sie eine
Bibliotheksordnung brauchte, um zu wissen, was gut und was nicht gut war, eine
Tischordnung, Hausordnung, Halsgerichtsordnung. Es gab nur diese
Rechtschaffenheit um ihn herum, die gern Bier trank und nichts schaffte außer
recht viel für sich selbst. Es gab nur diese Mitglieder, Vorsteher und
Kassenwarte, die wieder Mitglieder, Vorsteher und Kassenwarte nach sich zogen
und alles denunzierten, was nicht wie sie war.
    Judith verstand ihn damals.
     
     
    Aber gestern Abend spielte es
für ihn keine Rolle mehr, dass sie ihn einmal so liebte. Dass sie auch, als sie
ihm keine Beiwohnung mehr erlaubte, ihm zugeneigt blieb. Ihm beistand. Sich
zwar nicht mehr auf dem Faulbett für ihn verwendete, sonst aber doch. Bei
Vyfkens Begräbnis zum Beispiel, als er kopflos war, sie den Totenschein, den
Erbschein, die Papiere über den Steuer-Erlass für ihn besorgte.
    Gestern Abend
spielte für ihn keine Rolle mehr, dass sie auch seine Enttäuschung über die
nicht existierenden Rosenkreuzer, seinen Schmerz, seine Wut über diesen Betrug
damals verstand. Dass sie damals seine Männertränen noch schwerer als die ihres
Sohnes ertrug. Dass sie alles noch wusste, was sie einmal über Sterne und
Unsterne gesprochen hatten, über die zahlreichen Planetenaspekte bei seiner Geburt,
über das öffentliche Wirken, zu dem er bestimmt war. Und dass er gern ein
Doktor geworden wäre! Dass sie ihn einmal zum Dr. amoris causa ernannt hatte,
was aber nicht reichte, und dass sie nicht nur Pflaumenkuchen backen, sondern
auch hatte erkennen können, in welcher Lage er war.
    Allein.
Isoliert. Und auch bald, das kam noch dazu, denn Vyfken war inzwischen
gestorben und auch bei der Ausrichtung des Begräbnisses und der
Erbschaftsformalitäten hatten Kober und sie ihm, wo sie nur konnten, beigestanden,
bald war er auch wieder in der Gasse Achter der Mauer.
    Allein. Zwar
dem Ersten Stand zugehörig, aber von den Ratsfamilien geschieden durch seine
Armut. Von den Nachbarn, den Gerbern und Hirten, geschieden durch seine
Bildung. Von den Kollegen, die auch arm und gebildet waren, geschieden durch
den Vorzug, dank des Legats ihres Vaters Bibliothekar der Stadt Pritzwalk zu
sein.
    »Bibliothekar?
Ich? Der Rat hat das hier zwar« – er machte mit dem Arm eine Geste –
»Bibliotheca publica genannt, aber er denkt gar nicht daran, es publik zu
machen!«
    »Nun schreit
nicht mich an, Valentin. Ich weiß, dass man Euch keine Räume gibt, aber
ich kann nichts dafür!«
    »Entschuldigt.«
    Er schniefte
und wischte sich die Nase am Ärmel ab und Baltzer hätte sie dafür am liebsten
eins hinter die Ohren gegeben.
    »Ich hab nichts«, sagte er,
»keine Frau, keine Kinder, keine Freunde. Ich hab keinen Beruf, der mich
ausfüllt, ich hab nicht einmal mehr mich selbst. Das, was Ihr seht, ist der
Rest von mir. Ich hätte mit meinen Talenten zwar manches gekonnt. Aber man ließ
mich nicht tun, was ich könnte.«
    »Ihr habt
mich, Valentin!«
    Sie sagte es weich und merkte
auch gleich, dass es, obwohl ehrlich gemeint, ziemlich falsch war. Schnell, um
dem Gespräch keine unerwünschte Richtung zu geben, fuhr sie fort: »Ihr braucht
Euresgleichen. Ihr braucht die Verbindung zu Männern, die Euch zu schätzen
wissen, Männern von Eurem Verstand, Eurem Streben.«
    Wie es denn
wäre, zu Diederich von dem Werder zu reisen?
    Der habe ihn
doch schon so oft eingeladen. Erstens würde er dort vielleicht hören, ob dieses
Buch vom »Turris babel« nicht bloß eine Fälschung sei, denn er habe ihr doch
gesagt, wie viele heimtückische, wütende Gegner die Brüder vom Rosenkreuz
hätten, und zweitens…
    Sie hob ihre Stimme, um ihn
am Sprechen zu hindern: » –

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