Die Inseln des Ruhms 01 - Die Wissende
ich sie noch erkennen konnte; für jemanden, der früher nicht gewusst hatte, was Weinen bedeutete, weinte ich sehr heftig.
Dann gingen sie wieder weg und ließen mich allein zurück.
Was hatte Flamme nur veranlasst, etwas so unsagbar Gefährliches zu tun? Uns freiwillig in Morthreds Bau zu folgen und so zu tun, als würde sein dunkelmagischer Fluch Wirkung zeigen? Als wäre ihr Arm nie abgetrennt worden und als hätte sein Zauber sie wirklich bezwungen? Freiwillig das Fegefeuer auf sich zu nehmen, das ein Dasein an Morthreds Seite bedeutete, und ganz nach Belieben von ihm missbraucht zu werden? Ein einziger Fehler, eine falsche Bewegung, und sie würde verdammt sein – nicht zum Tod, sondern zu einer noch schlimmeren Art von pervertierter, entwürdigenderer Sklaverei. Ihre Magie genügte, um ihn den Arm sehen und fühlen zu lassen, aber sie konnte mit ihm nichts aufheben. Es musste schwierig sein, die Täuschung aufrechtzuerhalten; ein winziger Ausrutscher genügte schon, um in Morthred den Verdacht aufkeimen zu lassen, dass ihr linker Arm nicht echt war. Und wenn er das begriffen hatte, würde er auch wissen, warum er ihr abgenommen worden war, und dass sie ihn angelogen hatte und ihre Bezwingung reine Augenwischerei gewesen war.
Ich erinnerte mich an die Dunkelmagie, die sich über ihren Körper bewegt hatte – Spuren von Morthreds Berührung ihrer Haut. Ich erinnerte mich, wie sie zusammengezuckt war, als er von der Nacht gesprochen hatte. Nein, sie hatte sich nicht auf ein Fegefeuer eingelassen, sie lebte bereits in der Hölle. Freiwillig. Und sie hatte gewusst, was er von ihr wollen würde …
Er hatte sie bereits zuvor vergewaltigt. Selbst, wenn er ihre Täuschung nie erriet, hatte sie gewusst, dass sie leiden würde.
Sie war ein wandelnder Widerspruch: Manchmal bestand sie aus dem Horn des Marlins und wirkte hart und unzerstörbar, und dann wieder war sie so weich und verletzlich wie ein Fischlaich, der in die Strömung geworfen wurde. Sie konnte etwas so Mutiges tun, dass ich allein bei dem Gedanken daran eine Gänsehaut bekam, aber sie konnte sich auch gegen die Verletzungen ihres Körpers abhärten. Sie hatte nicht mein dickes Fell. Ich spürte, dass sie das alles ohne Ruarths Unterstützung nie hätte tun können: Sie konnte nicht so für sich allein sorgen wie ich.
Wieder sah ich auf Aylsa hinunter.
Und fragte mich, womit ich solche Freunde verdient hatte. Ich weiß es immer noch nicht.
Schließlich ließ ich das Ghemf ins Wasser gleiten.
Aylsas Tasche trieb vorbei, und ich zog sie heraus und öffnete sie. Sie hatte mir etwas zu Essen und Wasser und ein Seil gebracht. Ich zwang mich, etwas zu essen und zu trinken; ich benötigte meine Kraft für die bevorstehende Nacht. Das Seil war nutzlos – ich konnte es nirgends am Rand festmachen, um mich nach oben zu ziehen. Und zweifellos stand dort ohnehin jemand Wache.
Als ich das Seil ins Wasser fallen ließ, erhaschte ich einen Blick auf das Zeichen, das Aylsa in meine Handfläche geschnitzt hatte. Und riss überrascht die Augen auf: Die Wunde hatte sich bereits geschlossen, war verheilt. Und die Narbe, die zurückgeblieben war, war ganz und gar nicht normal. Sie war golden. Sie schimmerte wie der Blitz, den ein ins Sonnenlicht springender Krapfen verursacht.
Ihr habt es natürlich bemerkt. Es ist immer noch da – seht Ihr? –, und genauso schön wie am ersten Tag. Ihr Geschenk für mich – das Bughet, das Symbol ihres Volkes – und, wie ich herausfinden sollte, ein Zeichen, das mir die bedingungslose Unterstützung sämtlicher Ghemfe sichern sollte, von Calment bis zu den Plitschen. Ein Zeichen, das sie mir mit ihrem sterbenden Blut gegeben hatte.
* * *
Brief des Feldforschers (Sonderbeauftragten) S. iso Fabold, Nationalforschungsministerium, Bundeshandelsministerium, Kell, an den Leitenden M. iso Kipswon, Präsident der Nationalen Gesellschaft für das Wissenschaftliche, Anthropologische und Ethnographische Studium nicht-kellischer Völker.
Heutiges Datum, 1. – 1. Dunkelmond – 1793
Onkel,
ich habe das » Bhuget« untersucht, auf das sie sich hier bezieht. Es ist genau so, wie sie es beschrieben hat: eine Tätowierung mit Gold darin. Das Gold ist so flexibel, dass es ihre Handbewegungen nicht beeinträchtigt, was bedeutet, dass es hauchdünn sein muss. Paradoxerweise scheint es sich nicht abzunutzen. (Vergiss nicht, dass sie erklärt hat, es wäre vor fünfzig oder sogar noch mehr Jahren angefertigt worden!) Wenn sie es wirklich auf
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