Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)
dort aussieht?“
Sie legte den grünen Stift beiseite und griff nach einem schwarzen.
Verhoevens Augen folgten jeder Bewegung. Auf dem Blatt verbanden sich Linien zu Mustern, die ihm wirr und unrealistisch vorkamen. Ab welchem Alter lernten Kinder eigentlich, ihre Umgebung dreidimensional wahrzunehmen? Verlangte er etwas, das Corinna Schilling nicht leisten konnte? Aber wir haben nur sie, dachte er resigniert. Sie allein hat gesehen, was wir suchen.
Das Mädchen zeichnete noch immer mit ungebrochenem Enthusiasmus. Ihre Stirn war in tiefe, hochkonzentrierte Falten gelegt.
Vor Verhoevens Augen erstand ein Gegenstand, der vielleicht ein Tisch sein mochte, mit einem rechteckigen blauen Kasten darauf. Dieser Kasten war zugleich das einzig Farbige, das Corinna bislang gemalt hatte. Igel, schoss es ihm durch den Sinn, und erst mit einer gewissen Verzögerung realisierte er, dass er an einen Film dachte. Einen alten Schwarzweißfilm mit Heinz Rühmann, indem ein kleiner Junge den müden Kommissar durch eine Kinderzeichnung auf die richtige Spur führte. Igelriesen und ein Steinbock. Der Hinweis auf ein Nummernschild mit dem Wappen des Kantons Graubünden.
„ Mein Vater ist auch ein großer Mann, aber kein Riese“, flüsterte eine piepsige Mädchenstimme in seinem Kopf, um gleich darauf trotzig hinzuzufügen: „Und es ist doch kein Märchen!“
Die Phantasie eines Kindes, dachte Verhoeven , indem er wieder Corinnas Zeichnung ansah. Ein mysteriöser blauer Kasten mit kleinen gelben und roten Strichen darin. Ansonsten nur düsteres Schwarz. Kein Zweifel, der Ort, an dem Corinna Schilling festgehalten worden war, befand sich meilenweit entfernt von wattigen Bäumen und grün-weiß gestreiften Hollywoodschaukeln im Garten. Und jetzt zeichnete Corinna auch einen Menschen. Dunkel und groß …
„Ist das der Mann, der dich mitgenommen hat?“
Keine Antwort.
„Und was ist das dort?“
Das Mädchen sah ihn an.
„Was hat der Mann da im Gesicht?“
„Muck“, antwortete Corinna.
12
„Ein Piercing?“
Verhoeven schüttelte den Kopf. „Dazu ist es zu groß.“
„Kinder geben Proportionen oft ungenau wieder“, bemerkte Hinnrichs, ohne den Blick von Corinna Schillings Zeichnung zu wenden, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. „Die Größe eines Objektes hängt oft entscheidend davon ab, wie wichtig das Kind das betreffende Objekt nimmt.“
Verhoeven wusste genau, was er meinte. Sie waren mit Nina im Zoo gewesen, vor ein paar Monaten. Mehr als eine halbe Stunde hatten sie vor dem Elefantengehege zugebracht, ohne dass sie Nina auch nur einen Millimeter von dort hatten wegbewegen können. Natürlich hatte er automatisch angenommen, dass sie einen besonderen Gefallen an den großen Tieren fand. Doch dann war ihm aufgefallen, dass Nina gar nicht die Elefanten ansah, sondern viel weiter nach unten blickte. Er hatte sie gefragt, und sie hatte auf ein winziges Gürteltier gezeigt, das geschäftig in dem Graben herumlief, der das Elefantengehege von den Zoobesuchern trennte.
„ Tannenzapfen“, hatte sie gestrahlt, und auf jedem einzelnen der Bilder, die sie in den folgenden Wochen gemalt hatte, war das Gürteltier präsent gewesen, wobei sie es in der Regel ebenso groß gezeichnet wie die Elefanten.
„Was ist das für ein Quadrat hier?“, riss Hinnrichs ihn aus seinen Gedanken.
„Das blaue?“
Sein Vorgesetzter nickte und kratzte sich am Kopf. „Das Bild hat kaum Farbe. Und dann so ein auffälliges Ding in der Mitte.“ Er runzelte die Stirn. „Ein Fenster vielleicht?“
„Möglich“, sagte Verhoeven. „Wenn Corinna sich in einem abgedunkelten Raum befunden hat und das Fenster durch ein blaues Rollo verdeckt war …“ Er schwieg einen Moment. Wenn er ehrlich war, glaubte er nicht an ein Fenster. Das Quadrat, über das sie sprachen, schien ihm nicht an der richtigen Stelle zu sein. Es wirkte … Ja, wie denn eigentlich?
In den Raum integriert, gab er sich selbst zur Antwort. Wie ein Möbelstück. Und dann dieses tischähnliche Gebilde unter dem Blau. Oder gab es in dieser Zeichnung gar kein Oben und Unten?
„Das Mädchen selbst ist auf dem Bild jedenfalls nicht präsent“, setzte Winnie Heller indessen die Analyse von Corinna Schillings Zeichnung fort. „Im Gegensatz zu dem Kerl, der sie entführt hat. Wenn er es tatsächlich ist“, fügte sie einschränkend hinzu.
„Zumindest wissen wir jetzt, dass es nicht Fennrich war.“ Verhoeven nahm einen Schluck von seinem Kaffee, der
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