Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)
gewesen war.
Verhoeven begrüßte alle drei mit einem flüchtigen Kopfnicken, während er die letzten beiden Fotos in den Scanner legte. Die großangelegte Suche war bereits im Gange gewesen, als sie in Brixenheim eingetroffen waren, so dass sie zumindest in dieser Hinsicht keine unnötige Zeit verloren hatten. Die vorausgegangenen Ereignisse, insbesondere die mysteriöse Entführung von Corinna Schilling, waren zu beunruhigend, als dass es einer der Zuständigen vor Ort gewagt hätte, erst einmal abzuwarten. Beamte gingen von Haus zu Haus, fragten nach Zeugen, verdächtigen Autos, Auffälligkeiten. Die ersten Suchhunde sollten innerhalb der nächsten halben Stunde eintreffen, eine weitere Staffel war angefordert.
„Tja, mein Junge“, sagte Brüning, indem er provozierend dicht vor Verhoeven hintrat. „So schnell sieht man sich wieder, was?“
„Bedauerlicherweise“, die Pause, die Verhoeven machte, bevor er fortfuhr, war so lang, dass die anwesenden Beamten interessiert die Köpfe hoben, „müssen wir euch schon wieder bemühen.“
„Und dieses Mal kann dein greiser Hauptverdächtiger ganz bestimmt nichts mit der Sache zu tun haben, weil er zu tot ist, um noch irgendwelchen Schaden anzurichten“, konterte Brüning mit einem unangenehmen Grinsen. „Weshalb die Zuständigkeiten aus meiner Sicht auch nicht eindeutig geklärt sind.“
Verhoeven begriff die Bemerkung als das, was sie war. Eine Kampfansage. Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, damit ein Greenhorn wie du hier nicht das Sagen behält, darauf kannst du dich verlassen, Kleiner.
Er rang sich ein dünnes Lächeln ab. „So lange ich aus dem Präsidium nichts Gegenteiliges höre, leite ich diese Ermittlungen“, antwortete er mit der Gelassenheit eines Menschen, der sich voll und ganz im Klaren darüber ist, dass er das Spiel, das er spielen muss, nicht gewinnen kann. „Können wir uns vielleicht darauf verständigen, einstweilen einfach unseren Job zu erledigen?“
„Aber sicher doch.“ Brüning ließ sich auf einen der leeren Stühle fallen und streckte in einer machohaften Geste die Beine von sich. Seine Lakaien nahmen rechts und links von ihm Platz und musterten Verhoeven mit gelangweilten Mienen. „Leg los, wir sind ganz Ohr.“
Verhoeven fasste die bisherigen Erkenntnisse in ein paar knappen Sätzen zusammen: Ann-Kathrin Jehninger, drei Jahre alt, hatte gemeinsam mit rund fünfundzwanzig anderen Kindern auf dem Grundstück des Kindergartens gespielt und war zuletzt bei der Sandkiste gesehen worden. Wann sie verschwunden war, vermochte niemand genau zu sagen. Die Erzieherinnen betonten, dass die Kinder jederzeit die Möglichkeit hätten, ins Haus zu gehen, allerdings gebe es an allen Fenstern und Türen Vorrichtungen, die verhinderten, dass sie das Gebäude verließen. Wer die Tür zur Straße öffnen wollte, musste einen Türdrücker benutzen, der etwa in Augenhöhe eines Erwachsenen angebracht und somit für Kinder unerreichbar war. Wer von außen kam, musste klingeln. Im Laufe des Nachmittags seien ein paar Eltern da gewesen, um ihre Kinder abzuholen. Sonst nichts.
Die Eltern des vermissten Mädchens gehörten zu den Besserverdienenden und bewohnten ein großzügiges Einfamilienhaus mit Pool am Ortsrand. Eigentlich bringe sie ihre Tochter am Freitagnachmittag nie in den Kindergarten, hatte Nicole Jehninger unter Tränen angemerkt. Nur heute, da habe sie einen Arzttermin gehabt und ihrer Tochter die nervenaufreibende Warterei in einem überhitzten Wartezimmer ersparen wollen.
„Dieses andere Mädchen ist doch aber auch wieder aufgetaucht, oder etwa nicht?“, hatte ihr Mann mit trotziger Miene angemerkt. „Ich meine, da ist es doch noch gar nicht gesagt, dass er ihr …“
„Nein“, hatte Verhoeven geantwortet. „Das ist nicht gesagt.“
Er hatte ein schlechtes Gefühl gehabt bei diesem Satz. Dabei, die Eltern zu beruhigen. Ihnen Hoffnung zu machen. Und das, obwohl er genau wusste, dass tatsächlich die überwiegende Anzahl verschwundener Kinder wieder auftauchte. Meist dauerte es nur wenige Stunden, dann waren sie wieder da. Und doch hatte er in Ann-Kathrin Jehningers Fall ein ungutes Gefühl. Ob trotz oder wegen Corinna Schilling, konnte er nicht sagen, aber er verspürte eine seltsame Unruhe. Ein Mann entführte Kinder. Sprach mit ihnen. Streichelte sie. Würde es, konnte es dabei bleiben? Irgendwann reicht ihm das Streicheln nicht mehr, dachte er. Eines Tages wird er eines von ihnen verletzen. Vielleicht sogar
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