Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)

Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)

Titel: Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
Vom Netzwerk:
nicht.“ Yvonne Paland saß auf der Terrasse ihrer Wohnung und blickte über den verdorrenden Rasen zu einer bröckligen Gartenmauer hinüber. Vor ihr auf dem Tisch stand ein Glas, das augenscheinlich Orangensaft enthielt. Möglicherweise mit etwas Hochprozentigem darin. Wahrscheinlich sogar, dachte Winnie, als sie den glasigen Blick ihres Gegenübers bemerkte. „Ich habe Ihnen nur nicht alles erzählt.“
    „Es war Ihre Mutter, die Sie misshandelt hat. Sie und Ihre Schwestern.“
    Yvonne Paland hob die Schultern. Gleichgültig.
    „Wussten Sie, dass es einen Namen gibt für das, was Sie durchgemacht haben?“
    „Ach ja?“
    Ohne um Erlaubnis zu fragen, nahm Winnie auf einem freien Gartenstuhl Platz und berichtete in knappen Worten über das, was Dr. Frescobaldi ihr erzählt hatte.
    Yvonne Paland lauschte ihren Worten ohne erkennbare Regung. Nur einmal registrierte Winnie, dass sich ihre Hände ein wenig fester um die Lehnen ihres Stuhls schlossen.
    „Es … Ich weiß nicht mehr, wann es angefan gen hat“, sagte  Yvonne Paland, als sie geendet hatte. „Und auch nicht, wann mir bewusst wurde, dass sie es mit Absicht tut.“ Sie blickte noch immer starr geradeaus, aber sie wirkte nicht mehr ganz so gleichgültig wie zuvor. „Sie war ja nicht immer nur … Ich meine, sie kümmerte sich auch um mich … um uns, verstehen Sie?“
    Winnie nickte. Die Beziehung zwischen Mutter und Kind ist beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom grundsätzlich sehr eng, hatte Dr. Frescobaldi ihr erklärt. Die Täterinnen zeichneten sich oft durch eine besonders aufopferungsvolle Pflege ihrer Schutzbefohlenen aus und erlebten die Kinder als einen Teil ihrer selbst, so dass man davon ausgehen konnte, dass sie mit ihren Kindern in gewisser Weise auch sich selbst beschädigten. Dennoch nennt Yvonne Paland Brigitte Dahl niemals „Mutter“, notierte Winnie in Gedanken. Sie spricht von ihr immer nur als „Sie“.
    „Als ich in die Schule kam, wurde es seltener“, fuhr Lilli Dahls Schwester mit stockender Stimme fort.
    Es , notierte Winnie. Sie und Es. Die Täterin und ihre Taten.
    „Zu diesem Zeitpunkt war sie noch nicht so raffiniert wie später, und sie hatte wohl auch Angst, dass jemand Verdacht schöpft.“ Yvonne Paland biss sich ein Stück Haut von der Unterlipp e. Die Stelle begann zu bluten. „Irgendwann hörte es dann ganz auf.“
    „Weil Sie lernten, besser auf sich aufzupassen?“
    „Möglich“, antwortete sie ausweichend.
    „Oder weil Ihre Mutter sich Lilli zuwandte?“
    Sie biss wieder auf ihre Lippe. Fest. Winnie konnte sehen, wie die Haut rund um die Stelle weiß wurde. Dann quoll dickes, dunkelrotes Blut heraus. Ein Tropfen rann an Yvonne Palands Kinn hinunter und fiel von dort auf ihre helle Chiffonbluse, ohne dass Lilli Dahls Schwester auch nur im Mindesten reagiert hätte. Sie schien nicht einmal zu bemerken, dass sie sich verletzt hatte.
    Autoaggressionen , nickte Dr. Frescobaldi in Winnies Kopf. Die Opfer neigen zu destruktivem Verhalten …
    Automatisch sah Winnie ihre eigene zerschundene Hand an. Am Morgen, bevor sie nach Brixenheim aufgebrochen war, hatte sie den Verband gewechselt. Die Wunden heilten gut. Trotzdem würde sie die Hand noch eine ganze Weile verstecken müssen. „Ihre Mutter ließ von Ihnen ab, weil sie ein neues Opfer gefunden hatte, nicht wahr?“, fragte sie, als sie bemerkte, dass ihre Gesprächspartnerin im Begriff war, sich in ein  neuerliches, erlösendes Schweigen zurückzuziehen.
    „Ich war neun Jahre alt, verdammt noch mal“, rief Yvonne Paland mit plötzlicher Vehemenz, und die Haut unter ihrer blutbefleckten Bluse wurde krebsrot. „Ich hatte Probleme in der Schule. Ich hatte keine Freunde. Und ich machte jede Nacht ins Bett. Da können Sie doch nicht ernsthaft erwarten, dass ich … Dass es mir möglich gewesen wäre, meine kleine Schwester zu beschützen.“
    Sie hat keine Schuld, dachte Winnie, sie rechtfertigt sich für etwas, das sie nicht zu verantworten hat.
    Trotzdem brachte sie es nicht über sich, diese Empfindungen auszusprechen. Nicht einmal, um Yvonne Paland vor sich selbst zu beschützen. Alles, was sie sagte, war: „Ich erwarte gar nichts.“
    Gegenüber begann Yvonne Paland auf einmal zu schluchzen. Starrte den Tisch an. Ihr Glas. Ihren Halt. „Ich hätte etwas tun müssen, nicht wahr? Das denken Sie doch. Schließlich war es bei Lilli noch … Es war bei ihr viel schlimmer als bei mir. Sie hatte durch mich eine ganze Menge gelernt, verstehen Sie? Wie man

Weitere Kostenlose Bücher