Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)
Ahnung.“
„Aber Lilli hatte sich nach Lornas Tod verändert?“
„Sie meinen psychisch?“
„Ja, ich meine psychisch.“
Ihr Blick bekam etwas Herausforderndes. „Was glauben Sie, was mit einem Kind los ist, das auf diese Art und Weise misshandelt wurde?“
„Wie ist das mit Ihnen?“
„Ich komme klar“, antwortete sie mechanisch.
Ja, dachte Winnie und sah das Glas an, das sie zwischen ihren Händen barg wie einen kostbaren Schatz. Mehr oder weniger …
Sie verabschiedete sich und ging zu ihrem Wagen zurück. Fehlanzeige, dachte sie. Sackgasse. Aber trotzdem, war es einen Versuch wert gewesen. Sie musste geduldig sein. Informationen sammeln. Puzzleteilchen.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie noch Zeit hatte. Also fuhr sie abermals zu dem Grillplatz, in dessen Nähe Viola Krempinski verschwunden war. Dieses Mal parkte sie direkt bei der Hütte und marschierte von dort zügig hangaufwärts. Zunächst konnte sie einer Art Weg folgen, doch der war nach ein paar hundert Metern einfach zu Ende, so dass sie querfeldein gehen musste.
Das Unterholz war licht und sonnendurchflutet.
Hin und wieder nahm Winnie einen kräftigen Schluck aus der Wasserflasche, die sie aus dem Wagen mitgenommen hatte, und es dauerte keine fünf Minuten, bis sie von oben bis unten durchgeschwitzt war. Die Flüssigkeit schien einfach durch sie hindurch zu rinnen und tränkte ihr Top und die karierte Bluse, die sie sich ohne Rücksicht auf die knitterempfindlichen Ärmel um die Hüften gebunden hatte. Nach etwa einer Viertelstunde Fußmarsch hatte sie die höchste Stelle erreicht und konnte den Weiher unter sich liegen sehen wie einen glitzernden grünen Fleck in der Landschaft. Sie blieb kurz stehen, um den Ausblick zu genießen und sich zu orientieren, dann wandte sie sich nach Westen, wo Fennrichs Hütte liegen musste, die allerdings von dieser Warte aus nicht zu sehen war.
Nach und nach wurden auch die Bäume wieder dichter und raubten ihr die Aussicht, so dass sie sich nur mehr auf ihren – zumindest nach Lübkes Ansicht – mehr als dürftigen Orientierungssinn verlassen konnte. Unter ihren Füßen veränderte der Boden seine Gestalt. Wurde weicher. Samtiger. Moos, dachte sie. Vor ihr fielen die Sonnenstrahlen in breiten Streifen auf den ausgedörrten Waldboden. Es roch nach welkem Laub und Erde, aber nicht würzig wie im Herbst, den sie so liebte, sondern dumpf, beinahe ordinär. Ein Aroma von Überreife mit einem Hauch von Verwesung darin.
Verwesung und Tod …
„Bist du diesen Weg gegangen, Edda?“, flüsterte Winnie, wobei sie den Hals reckte, um einen Blick auf den See zu erhaschen. Doch der Wald um sie herum wurde immer dichter. „Und wer ist bei dir gewesen an diesem Tag? Wer hat dich hierher begleitet?“
Der Nöck , kicherte Rosemarie Wilnowski hinter ihrer Stirn. Sie hat gesagt, sie wollen den Nöck besuchen …
Sie, wiederholte Winnie stumm. Sie wollten den Nöck besuchen. Dieser Plural gab ihr Rätsel auf. Wer war damit gemeint? Edda und Lilli? Edda und Fennrich? Edda und der große Unbekannte? Wie ist es einem achtjährigen Kind überhaupt in den Sinn gekommen, so tief in den Wald zu gehen?, überlegte sie und sah über ihre Schulter zurück. Der Wald war dicht an dieser Stelle. Hohe Bäume umringten sie wie eine Gruppe schweigender Menschen und gaben Winnie das beklemmende Gefühl von Bedrängnis und Eingeschlossensein. Über ihr, in einer der Kronen, schrie ein Vogel. Es war ein schriller, lang gezogener Ton, der in den Schatten unter den hohen Bäumen verklang wie ein verzweifelter Hilferuf.
Ansonsten war es urplötzlich totenstill.
Nicht einmal mehr Wind war zu spüren.
Eine Falle, dachte Winnie, erstaunt über das nackte, elementare Angstgefühl, das von jetzt auf gleich über sie hereinbrach.
Etwas war hier, ganz in ihrer Nähe.
Etwas, das sie nicht fassen, ja, das sie nicht einmal näher beschreiben konnte.
Aber es war da.
Das hier ist ein schlechter Ort, hämmerte es hinter ihrer Stirn. Ein Ort, der vom Bösen berührt ist. Malus lokus. Eine verrufene Stelle …
„ Sei nicht albern!“, murmelte sie, um sich selbst zu beruhigen. „Es ist helllichter Tag. Die Sonne scheint. Du bist erwachsen. Du hast ein Handy.“ Sie schüttelte den Kopf. „Du bist Polizistin, Herrgott noch mal!“
Doch die Beklemmung ließ nicht nach.
Langsam und vorsichtig ging sie weiter. Sah sich um. Suchte das Dämmerlicht des Unterholzes nach einer potentiellen Gefahr ab, während ihr das Herz noch
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