Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)

Widerwillen. „Allerdings bekamen wir sie kaum zu Gesicht, weil sie ständig irgendwo in der Weltgeschichte herumstromerte.“ Er machte eine Geste, die wohl Missfallen bekunden sollte. „Eines Tages verschwand sie mit einem Koffer voller Sachen, und ein paar Wochen später kam ein Brief aus Hamburg, dass Fennrich und sie geheiratet hätten. Danach haben wir nie wieder von ihr gehört.“
    „Keine Weihnachtskar ten oder Geburtstagsgrüße oder Ähnliches?“, fragte Winnie.
    „Nein.“
    „Und Sie selbst haben auch keinen Versuch unternommen, wieder mit Ihrer Tochter in Kontakt zu treten?“
    Dahl schüttelte so heftig den Kopf, dass das Fett unter seinem Kinn zitterte. „Nein. Nie.“
    „Hat es Sie denn gar nicht interessiert, wie es Lilli ergangen ist?“ Verhoevens Ton war jetzt deutlich schärfer. „Wo sie lebt? Was sie tut? Ob sie vielleicht sogar Kinder hat, Ihre Enkelkinder?“
    Dahl sah zu seiner Frau hinüber, die mit leerem Blick in ihrem Sessel kauerte. „Wir konnten uns lebhaft vorstellen, wie es ihr ergangen ist.“
    „Wie meinen Sie das?“
    Er nahm wieder das Taschentuch zur Hand und wischte sich keuchend über Stirn und Kinn. „Wer sich mit einem Mann wie Fennrich einlässt, muss ein übles Ende finden“, entgegnete er lapidar. „Ein ganz mieser Halunke war das, der sein Lebtag keine müde Mark auf ehrliche Art und Weise verdient hat. Immerfort nur durch den Wald gegeistert ist der Kerl. Zum Wildern und so. Na ja, und dann diese Sache mit den beiden Mädchen, die verschwunden sind …“
    „Augenblick!“ Winnie tauschte einen Blick mit ihrem Vorgesetzten. „Sagten Sie gerade: Zwei Mädchen?“
    Dahl runzelte die Stirn und sah wieder seine Frau an. „Waren doch zwei oder nicht?“
    Brigitte Dahl lächelte dümmlich, und Winnie bezweifelte, dass sie überhaupt verstand, worum es ging.
    „Ach, keine Ahnung“, fauchte Dahl ungehalten. „Jedenfalls sind sie nie wieder aufgetaucht. Aber der Kerl war clever. Haben ihm nie irgendwas nachweisen können.“
    Ein erneuter Hustenanfall bemächtigte sich seines massigen Körpers und zwang ihn zu einer Redepause. Und sofort sprang seine Frau auf und holte den Tascheninhalator, der auf dem Esstisch lag.
    „Man nennt es ein Emphysem“, bemerkte sie eifrig. „Mein Mann leidet unter einer chronischen Bronchitis, wissen Sie, und…“
    „Ich denke nicht, dass unsere Gäste an meiner Krankengeschichte interessiert sind“, fiel Dahl ihr keuchend und scheppernd ins Wort, und seine Stimme hatte trotz aller Mühe, die ihm das Sprechen augenscheinlich bereitete, einen zwingenden Unterton.
    Brigitte Dahl zuckte spürbar zusammen. „Ich bin nicht schuld“, sagte sie leise, aber bestimmt, und huschte mit gesenktem Kopf zu ihrem Sessel zurück.
    „Das hat hier, verdammt noch mal, auch niemand beha up…“, setzte Dahl an, doch Winnie war schneller.
    „Was meinen Sie?“, hakte sie nach. „Woran sind Sie nicht schuld?“
    „Ich wollte nur…“ Das Leuchten in Brigitte Dahls Gesicht war erloschen, und ihre Augen wanderten unstet über den fleckigen Teppich. „Ich meinte …“
    Dahl machte Anstalten, ihr zu Hilfe zu kommen, doch sein rasselnder Atem reichte nicht aus, um etwas zu sagen. Nicht in diesem Augenblick.
    Allerdings schien seine Frau ihn ohnehin nicht wahrzunehmen. Sie saß zusammengesunken in ihrem Sessel und wiegte sich in kleinen, kaum sichtbaren Bewegungen hin und her.
    Hinter ihr, im Fernsehen, schob Laura Ingalls ihre Intimfeindin Nellie Oleson in einem Rollstuhl einen Abhang hinauf.
    „Ihre Tochter ist als Kind oft verletzt gewesen, nicht wahr?“, fragte Winnie, weil sie sehen wollte, wie Lilli Dahls Mutter auf diese Frage reagieren würde.
    Doch abermals war es ihr Mann, der zuerst sprach. „Wer hat das gesagt?“, stieß er angestrengt hervor.
    „Die Gerichtsmedizin“, entgegnete Verhoeven lakonisch.
    Im selben Augenblick hellte sich Brigitte Dahls Miene auf, fast so, als habe jemand einen unsichtbaren Schalter umgelegt. Aber vielleicht hatte sie auch einfach ein paar Sekunden gebraucht, um zu verstehen, was man von ihr wollte. „Sie war ein schrecklich wildes Kind“, rief sie lebhaft. „Trotz ihres Herzens. Sie waren alle wild. Alle drei. Sie sprangen herum und fielen die Treppen hinunter. Oder sie schlugen sich die Knie an irgendwelchen Ecken blutig. Und jedes Mal entzündete sich alles ...“
    Sie schnappte nach Luft, während Laura Ingalls in ihrem Rücken Nellie Olesons Rollstuhl den Abhang hinabstieß. Aus den