Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)
Augenwinkeln sah Winnie die matronenhaft herausgeputzte Nellie fluchend und schreiend im Dorfteich landen und gleich darauf vollkommen durchnässt und mit zerstörter Lockenpracht wieder an Land klettern.
„Ein ganz schlechtes Heilfleisch haben wir“, plapperte Brigitte Dahl indessen weiter. „Das liegt bei uns in der Familie, wissen Sie? Aber ich bin eine wirklich gute Krankenschwester.“ Sie lächelte. Eine Mischung aus Verlegenheit und Stolz. „Das muss man, wenn man so wilde Kinder hat, wissen Sie? Wirklich, meine drei Mädels waren wilder als die wildesten Jungs.“
Wenn das mal nicht genau die Gelegenheit war, auf die sie gewartet hatte!
Winnie straffte die Schultern und sah Brigitte Dahl direkt in die Augen. „Haben Sie Ihrer Tochter deshalb verboten, Röcke zu tragen?“
Ihr Blick erstarrte. „Wie bitte?“
„Wer hat Ihnen denn das erzählt?“, polterte ihr Mann, der vor Anstrengung schon wieder knallrot war. „Und was zum Teufel hat das alles mit Fennrich zu tun?“
Winnie ignorierte ihn einfach. „Frau Dahl?“
Die Angesprochene reagierte nicht.
„Warum haben Sie nicht erlaubt, dass Ihre Tochter Kleider anhatte?“
Brigitte Dahl duckte sich tiefer in ihren Sessel, als könne sie so den unangenehmen Fragen der Kommissarin entgehen. „Ich bin nicht schuld“, wiederholte sie, urplötzlich wieder mit vollkommen stupider Miene. „Ich habe mich immer gut um sie gekümmert. Und ich war krank vor Sorge um sie, verstehen Sie? Ganz und gar krank.“ Aus ihrer Kehle drang ein erstickter Laut. „Ich liebe meine Kinder. Ich würde niemals erlauben, dass ihnen ein Leid geschieht.“
„Sie sind ja vollkommen verrückt!“, schnaubte Dahl, der inzwischen wieder halbwegs zu Atem gekommen war. „Ich weiß genau , worauf Sie hinauswollen. Aber da sind Sie auf dem Holzweg.“ Er hustete wieder. Seine breiten Schultern bebten unter der Anstrengung. „Und jetzt verlassen Sie auf der Stelle mein Haus! Haben Sie mich verstanden?“ Er stemmte sich hoch und blickte sie hasserfüllt an. „Scheren Sie sich zum Teufel und lassen Sie uns endlich in Frieden!“
4
Sie hatten keine Lust , nach geeigneteren Alternativen zu suchen, also aßen sie in der schäbigen kleinen Gaststätte gegenüber der Polizeidienststelle zu Mittag. Obwohl die Fenster zur Straße gekippt waren, herrschte im Gastraum eine schier unerträgliche Hitze. Die Luft war zum Schneiden dick und schien zu einem nicht unwesentlichen Teil aus Frittierfett zu bestehen.
An zwei improvisierten Mittagstafeln aus mehreren zusammengeschobenen Tischen saßen rund zwei Dutzend Arbeiter von einer nahe gelegenen Großbaustelle. Zwischen den Gedecken standen mehrere Literflaschen Mineralwasser.
Winnie Heller bestellte Pfirsicheistee, Currywurst und Pommes mit Extra-Mayonnaise, während Verhoeven mit einem Käsebrot und Diätcola vorlieb nahm. Als die Kellnerin die Bestellung brachte, zahlten sie. Das Wechselgeld blieb an der karierten Plastiktischdecke kleben.
„Diese Sache mit Lillis Verletzungen ist und bleibt mysteriös“, bemerkte Verhoeven, nachdem die Bedienung sich entfernt hatte. „Ich möchte wissen, ob noch irgendwelche Krankenakten von damals existieren.“
„Lilli war achtundvierzig“, nuschelte Winnie zwischen zwei Bissen. „Es könnte also gut und gern vierzig Jahre her sein, dass sie wegen irgendwelcher Frakturen behandelt wurde.“
„Das ist leider richtig.“ Er sah sie an, und sie konnte an seinem Gesicht ablesen, was er dachte.
Wie können Sie so fressen? Bei dieser Hitze!
„Ich glaube kaum, dass die Unterlagen so lange aufbewahrt wurden.“ Sie schluckte und schob sich dann aufreizend langsam das nächste Stück Wurst in den Mund. Sollte Mister Perfekt doch von ihr halten, was er wollte! „Soweit ich weiß, beträgt die gesetzlich vorgeschriebene Aufbewahrungsfrist für Patientenakten dreißig Jahre. Wenn überhaupt.“
„Versuchen Sie’s trotzdem“, entschied ihr Vorgesetzter. „Vielleicht gibt es einen alten Hausarzt, der uns Auskunft über Lilli Dahls Krankengeschichte geben kann.“
„Hm.“ Sie dachte an ihre eigene Akte. Die Akte aus der Klinik, in der sie nach dem Unfall ihrer Schwester behandelt worden war. An die Gefahr, die davon ausging. Immerhin gehörte
der „Zustand nach nervenärztlicher / psychotherapeutischer Behandlung“, wie er im Merkblatt zur Polizeidiensttauglichkeit euphemistisch genannt wurde, zu den so genannten „eventuellen Ausschlussgründen“.
Aus diesem
Weitere Kostenlose Bücher