Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)
sechsunddreißig. In einem Sommer, der so heiß war, dass die Beamten, die nach ihr suchten, beinahe umkamen vor Hitze.“ Seine Augen krallten sich an Fennrichs Gesicht fest, auf dem jetzt ein völlig anderer Ausdruck lag. Etwas an dem, was ich gesagt oder gefragt habe, hat eine Veränderung bewirkt, dachte Verhoeven. Etwas, das er nicht greifen konnte. Er spürte nur, dass es da war. „Edda Bender verschwand“, wiederholte er dezidiert. „Sie verschwand, und sie ist nie wieder aufgetaucht.“
Unter Fennrich s Auge zuckte ein Muskel, als er sich wie in Zeitlupe erhob und langsam auf den Vollzugsbeamten zuging, der sich diskret in den Hintergrund zurückgezogen hatte. „Ich möchte zurück in meine Zelle.“
Der Beamte sah Verhoeven an.
„Von mir aus“, sagte dieser resigniert und blickte am Rücken des Alten hinunter, der geduldig die knorrigen Hände vorstreckte, damit der Vollzugsbeamte ihm Handschellen anlegen konnte.
Anschließend ging er voran, ohne sich noch einmal nach seinem Besucher umzublicken.
Wie ein alter Esel, der nach einem langen Tag auf der Koppel von selbst in seinen Stall zurückkehrt, dachte Verhoeven.
Er lauschte den schlurfenden Schritten im Korridor hinter der Glastür, bis sie nicht mehr zu hören waren.
Dann nahm er sein Diktiergerät vom Tisch und ging zurück zu seinem Auto. Es war zehn Minuten vor drei, und ihm war schmerzhaft bewusst, dass er schon wieder eine Stunde seines Lebens verschenkt hatte.
7
Winnie Heller konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so geschwitzt hatte. Schon die Fahrt zur Hütte hatte ihr T-Shirt förmlich aufgeweicht, und jetzt, nachdem sie den halben Schuppen durchsucht hatte, war sie so nass, als hätte sie mitsamt ihren Kleidern unter der Dusche gestanden.
Erschöpft ließ sie sich auf eine morsche Bananenkiste sinken und dachte an Verhoeven, der vermutlich gerade an einer gepflegten Kaffeetafel saß und die anderen Gäste mit allerlei amüsanten Begebenheiten aus seinem aufregenden Polizistenalltag unterhielt, während er Hund und Tochter beim Spielen zusah. Sie lehnte den Rücken gegen das raue Holz der Rückwand und fühlte unvermittelt wieder die alte Bitterkeit in sich aufsteigen. Den Neid, auf Verhoevens Zuhause. Den Ärger darüber, dass er so mühelos Karriere gemacht hatte, weil er sich von Anfang an von den richtigen Leuten hatte protegieren lassen, während sie nach wie vor fürchten musste, wieder bei der Drogenfahndung zu landen oder – schlimmer noch – als Betrügerin aufzufliegen und womöglich ganz aus dem Polizeidienst entlassen zu werden. Ihre Augen suchten das verbogene Metallteil, das sie zuletzt in den Händen gehalten hatte. Es erinnerte sie entfernt an den Hebel, mit dem sie so oft das Kopfteil von Ellis Bett verstellt hatte. Eine häufige Verlagerung des Körperschwerpunktes beugt Dekubitus vor, hatte der behandelnde Arzt ihr erklärt. Also hatte sie gewissenhaft an ihrer Schwester herumgezerrt. Sieben lange Jahre …
„ Zeit für deine Gymnastik, Kleines“, hatte sie gesagt, jedes Mal, bevor sie sich nacheinander die Arme und Beine ihrer Schwester vorgenommen hatte. Auf und ab. Beugen und strecken. Sie hatte die schlaffen Glieder bewegt, bis ihr selbst jeder Muskel wehgetan hatte .
Sie waren bis zuletzt überzeugt, dass Ihre Schwester wieder aufwacht , nicht wahr?
Auf ihrer Stirn war der Schweiß zu einem kühlen, klebrigen Film getrocknet wie eine von diesen Masken, die man nach zehn Minuten einfach abziehen konnte. Winnie schluckte. Es war eine halbe Ewigkeit her, dass sie so etwas ausprobiert hatte. Masken. Peelings. Eine neue Farbe für die Haare. Es gab Wichtigeres. Zumindest hatte es Wichtigeres gegeben. Bis letzten November. Doch Ellis Tod hatte eine Art Vakuum in ihrem Leben hinterlassen. Ein Loch in das sie jederzeit stürzen konnte … Oder hatte der Tod ihrer Schwester lediglich eine Leere offengelegt, die bereits dagewesen war?
Ihr rechter Zeigefinger malte ein paar schiefe Kreise in den Staub. Sie war ein ganz normaler Teenager gewesen. Sie war mit Freundinnen ausgegangen, hatte Partys gefeiert, einen Freund gehabt und nebenbei mehr oder weniger mühelos ihr Abitur gemacht. Und dann war der Tag gekommen, der alles verändert hatte. Dabei hätte es ihr Tag werden sollen. Die Feier des bestandenen Abiturs. Der Beginn einer neuen Lebensphase. Nicht umsonst hatte sie sich ausgerechnet diesen Tag dazu erkoren, zum ersten Mal mit Timo Wendel zu schlafen. Sie hatte alles bestens
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