Die Karte Des Himmels
solche Fragen. Erst als wir das Turmzimmer erreicht hatten, welches von den Zungen der untergehenden Sonne in ein prächtiges Gold wie aus einer anderen Welt getaucht war, sprach er mit mir, und zwar mit einem Ernst und einer Gewandtheit, wie ich sie noch nie zuvor gehört hatte.
»Es ist wahr«, begann er, »dass ich gestern nach Norwich gefahren bin und meinen Anwalt zu einem Mittagessen zu mir gewinkt habe, als er das Gericht verließ. Ich habe ihn angewiesen, Dokumente anzufertigen, in denen ich dich zu meiner Tochter und zu meiner Erbin ernenne. Der Vorgang ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Er beharrt darauf, seine Papiere und Bücher nach Hindernissen und solchem Unfug durchzusehen. Aber es wird geschehen, und zwar bald. Ich bin Alicias Gier und ihrer ständigen Predigten so überdrüssig! Und ich möchte, dass du Starbrough Hall bekommst und meine Arbeit fortführst, wenn ich nicht mehr bin.«
»Wenn Sie nicht mehr sind? Davon dürfen Sie nicht sprechen, Vater!«, sagte ich und wurde von einer plötzlichen Unruhe erfasst. »Sie sind doch nicht etwa krank?« Es schien ihn plötzlich sehr zu drängen – war das der Grund?
»Nein, Kind, ich bin nicht krank. Nur erschöpft. Und wer die Sterne studiert, weiß eines Tages, wie klein und unbedeutend wir sind, wie Ameisen oder Käfer auf dem Antlitz einsamer Felsen, die ewig im unendlichen Raum kreisen. Wie die Hand des Schicksals uns ohne Warnung oder Mitleid in unserem nutzlosen Insektendasein treffen kann.
Esther, als ich dich gefunden habe, war es wie einer dieser Augenblicke des Schicksals. Ich habe keine Ehefrau, noch habe ich jemals eine gewollt.« Er lachte auf. »Angenommen, sie wäre wie meine Schwester gewesen, hätte ich dann jemals Frieden in meinem Leben gefunden?
Als ich mich eines Abends im Juli des Jahres 1765 nach einer Tagung in London auf dem Heimweg befand und wir durch einen Wald fuhren, hielt der Kutscher – nicht unser Jan, sondern ein anderer – die Pferde an und sagte mir, dass sich ein Kind auf der Straße befände. Mit widerwilliger Neugier stieg ich aus, um nachzusehen. Der Mann brachte mich zu dem bemitleidenswertesten Bündel, das ich je erblickt hatte, zu einem kleinen zitternden Mädchen. Deine Kleider, Liebes, waren zu schmutzigen Lumpen zerfetzt, deine zarte Haut zerkratzt und blutig, dein Haar nichts als ein verfilztes Durcheinander, deine Augen groß vor Angst. Von Mitleid ergriffen nahm ich dich in die Arme und hüllte dich in eine Decke. Aber du hörtest nicht auf zu zittern. Ich befahl dem Kutscher, die Fahrt fortzusetzen, und in der schaukelnden Kutsche bist du schließlich in einen erschöpften Schlaf gesunken. Erst in diesem Augenblick habe ich bemerkt, dass du etwas eng an deine Brust klammertest. Sanft habe ich deine zarten Finger aufgeschält. Es war dieses hier.«
Er ging hinüber zur Wand. Überrascht schaute ich zu, wie er einen Stein aus der Mauer zog und ein geheimes Versteck enthüllte. Aus diesem Versteck holte er eine samtbezogene Schachtel und streckte sie mir entgegen. »Hier«, sagte er leise, »jetzt ist die rechte Zeit gekommen. Nimm es, es ist dein.«
Anfangs dachte ich, ich hätte eine Schachtel mit lebendigem, funkelndem Sternenlicht geöffnet. Dann sah ich, dass es sich um eine Halskette handelte, eine Halskette mit Sternen. Sieben an der Zahl. Sieben Diamanten, aufgereiht an einer goldenen Kette. Es dauerte lange, bis ich die Sprache wiedergefunden hatte.
Jude, die auf ihrem Bett saß, las den Satz noch einmal und fühlte sich, als würde sie in einen Abgrund stürzen. Eine Halskette mit sieben Diamanten. Wie die von Gran, nur vollständig. Es konnte sich unmöglich um ein- und dieselbe handeln. Ein Zufall, mehr nicht. Aber das Geheimnis von Esthers Herkunft war endlich gelöst – oder doch zumindest die Frage, wie sie nach Starbrough Hall gekommen war. Esther war ein Findelkind gewesen. Ein Findelkind in Seidenfetzen. Jude lehnte sich einen Moment in die Kissen zurück, um ihre rasenden Gedanken zu besänftigen. Dann las sie begierig weiter.
»Weder wusste ich, woher du stammst, Esther, noch habe ich mir die Mühe gemacht, es herauszufinden. Dessen schäme ich mich. Ich glaubte, dass die Hand des Schicksals dich mir zugeführt hatte. Mir, der ich niemanden hatte und der überzeugt war, niemanden zu brauchen. Aber als Vater war ich nicht zu gebrauchen. Ich habe dich wie einen Besitz gehütet, hatte keinen Sinn dafür, wie man ein Kind behandelt. Es war mir genug, dass du ernährt und
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