Die Karte Des Himmels
das bei dir anders?«
»Oh, nein«, sagte Claire. »Weißt du, als ich klein war, war meine größte Angst, dass ich gar nicht zur Familie gehöre. Dass ich ein Findelkind wäre, aber niemand es wagte, mir das zu sagen.«
»Wirklich?« Jude blickte ihre Schwester schockiert an. »Davon hatte ich keine Ahnung.«
»Eigentlich glaube ich, dass das eine normale kindliche Vorstellung ist, Jude, aber ich habe wirklich und wahrhaftig daran geglaubt. Es ist die reine Wahrheit, dass ich nie das Gefühl hatte ... ich würde zu dir und zu Mum und Dad passen. Irgendwann hatte ich mich überzeugt, dass ich adoptiert worden war. Und dass niemand den Mut hat, es mir zu sagen.«
»Aber das ist Unsinn!«, entgegnete Jude. »Natürlich warst du nicht adoptiert. Und natürlich warst du Teil der Familie.«
»Du kannst es Unsinn nennen, Jude, und vielleicht ist es das auch. Wahrscheinlich kannte ich immer die Wahrheit, aber das hat mich nicht daran gehindert, mich in meine Fantasien zu verlieren. Ich sag dir einfach nur, wie ich mich gefühlt habe. Aber du hörst mir nicht zu, oder?«
»Entschuldige«, sagte Jude kleinlaut. »Ich wollte dich nur beruhigen.«
»Du brauchst mich nicht zu beruhigen. Akzeptier einfach, dass ich mich damals so gefühlt habe. Mum und Dad konnten das nie. Ich habe nie in ihre Schubladen gepasst, verstehst du. Und das möchte ich Summer um keinen Preis antun – von ihr erwarten, dass sie irgendwas Bestimmtes fühlt oder tut. Ich möchte, dass sie ganz sie selbst ist.«
»Sie ist eine ganz eigene kleine Persönlichkeit.«
»Ja, das ist sie. Komisch, dass sie in vieler Hinsicht ganz normal ist. Dass sie Puppen mag und Tiere und schöne Kleider.«
»Sie hat eine lebhafte Fantasie.« Jude dachte an die Geschichten, die ihre Nichte im Puppenhaus gespielt hatte.
Claire griff nach dem Album und betrachtete das Foto mit der seltsamen, schattigen Gestalt. »Sieht sehr merkwürdig aus, findest du nicht?«
»Doch«, sagte Jude, »aber es gibt bestimmt eine vernünftige Erklärung dafür. Irgendwas Technisches, was mit Foto-Optik und Chemie zu tun hat.«
»Ja«, sagte Claire und ließ das Album sinken. »Aber jetzt habe ich auch genug von alledem. Jude, du denkst bestimmt, dass es gemein ist, aber es wäre mir lieber gewesen, du wärst nicht hergekommen und hättest das alles aufgewühlt. Ich habe die Nase gestrichen voll.«
Jude fühlte sich, als hätte man ihr einen Schlag verpasst. »Ich?«, sagte sie. »Ich habe nicht ...«
»Bevor du aufgetaucht bist, war alles in Ordnung. Jetzt geht es nur noch um diesen Unsinn mit dem Starbrough Folly und um Grans blöde Halskette. Das stiftet nur Unruhe. Summer ging es gut, bevor du angefangen hast, all dieses Zeug über den Turm auszugraben.«
»Nein, das stimmt nicht. Sie hat schon vorher seltsame Träume gehabt. Das sind Vorwürfe, die du Euan machen musst. Er ist derjenige, der sie zum Turm mitgenommen hat.«
Claire wandte das Gesicht ab. Wieder hatte Euan das Feuer zwischen ihnen entfacht.
Draußen öffnete der Himmel seine Schleusen, und es fing an, in Strömen zu gießen.
25. Kapitel
Es war ein sommerlicher Wolkenbruch, der uns Alicia in jenem Juli, in dem ich fünfzehn geworden war, vor die Tür schwemmte. Zwei Mal hatte sie uns besucht seit dem, was Susan »den großen Aufruhr« zu nennen für angebracht hielt, als ich zehn gewesen war, und bei der ersten dieser Gelegenheiten war mein Vater gezwungen gewesen, ihr Vorhaltungen zu machen, denn Mrs. Godstone hatte gedroht, ihn über Alicias Einmischungen in Kenntnis zu setzen. Bei diesem letzten Mal hatte sie neben Augustus auch ihren fetten kleinen Ehemann vom Lande mitgebracht, und die drei standen nun elendig tropfend in der Halle, während der Kutscherbursche das Gepäck auslud.
Diesmal versteckte ich mich nicht, sondern wartete unsicher auf der Treppe. Ich fragte mich, ob sie mich in Anbetracht meiner neuen Stellung im Haushalt wohl begrüßen würden. Nein, das taten sie nicht. Augustus schenkte mir wie üblich ein ernstes Lächeln, aber seine Eltern missachteten mich hartnäckig. Inzwischen verfügte ich allerdings über genügend Würde, mich nicht darüber zu empören.
Nachdem sie sich beim Sturz von einem Pferd vor ein paar Monaten einen Knochen im Fuß gebrochen hatte, ging Alicia am Stock. Aber das milderte ihr Temperament keineswegs. Ihr Ehemann humpelte ebenfalls, geplagt von der Gicht, die ihm Schmerzfalten in das kaninchenartige Gesicht gegraben hatte. Nur Gussie stand groß aufgerichtet
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