Die Katze
Telefon zu bekommen, den Psychologen, der Jill untersucht und dann beim Prozess als Gutachter gegen sie aufgetreten war. »Ich brauche Ihre Hilfe«, hatte sie ihn gebeten, nachdem sie sich vorgestellt und ihre Lage erklärt hatte.
»Ich erwarte um zehn Uhr einen Patienten«, erwiderte er knapp und gemessen. »Sie können kaum erwarten, dass ich Ihnen in zwanzig Minuten eine Vorlesung über Psychopathie halte, oder?«
Charley stellte sich ihren Gesprächspartner als einen Mann mittleren Alters und mit schütterem Haar vor, so wie den Psychologen aus Law & Order , obwohl er ebenso gut jung mit üppiger Mähne hätte sein können. Stimmen konnten täuschen wie alles, was mit Menschen zu tun hatte.
»Ich nehme an, Sie haben mein Gutachten gelesen?«
»Ja, darin attestieren Sie Jill eine ›Borderline-Persönlichkeitsstörung‹, das heißt...«
»Das heißt, sie ist extrem narzisstisch, und es mangelt ihr an grundlegenden menschlichen Empfindungen wie Mitgefühl.«
»Wie kommt so etwas?«, fragte Charley.
»Die aktuelle Theorie geht davon aus, dass die Borderline-Persönlichkeitsstörung das Resultat von drei Hauptfaktoren ist«, erklärte Dr. Norman geduldig. »Erstens Gene, zweitens Erziehung, drittens Umwelt. Im Fall einer Person wie Jill Rohmer hat die Tatsache, dass sie als Kind misshandelt worden war, offensichtlich dazu beigetragen, dass sie später andere misshandelt hat.«
»Aber nicht jeder, der als Kind misshandelt wurde, wird zum kaltblütigen Mörder. Ihre Schwester zum Beispiel.«
»Miss Webb, wenn ich in der Lage wäre vorherzusagen, wer als Erwachsener zum Mörder wird, wäre ich berühmter als Freud. Wichtig ist, sich immer daran zu erinnern, dass Jill Rohmer sich von niemandem für dumm verkaufen lässt. Sie ist äußerst manipulativ und eine raffinierte Lügnerin.«
»Und wie geht man mit so jemandem um?«
»Sehr vorsichtig«, erwiderte der Psychologe.
»Ich habe Mrs. Barnet im Park kennengelernt«, beantwortete Jill nun unvermutet die Frage, die Charley selbst schon beinahe wieder vergessen hatte. »Der Park ist ein paar Straßen von ihrem Haus entfernt, und ich bin oft dort hingegangen, wenn ich alleine sein wollte.«
»Sie meinen den Crescent Park?«
Jill wirkte ehrlich überrascht. »Keine Ahnung. Ich wusste nicht, dass er einen Namen hat.«
»Und weiter?«
»Na ja, eines Tages saß ich auf einer der Schaukeln - es gab insgesamt drei -, und Tammy kam angerannt. Ihre Mom gleich hinterher. Man konnte schon an ihrem Gesichtsausdruck sehen, wie verrückt sie nach der Kleinen war. Wie kommt es, dass Sie jetzt darüber reden wollen?«, fragte Jill Charley. »Sind wir mit meiner Kindheit fertig?«
»Ich dachte, damit machen wir fürs Erste eine Pause«, antwortete Charley.
»Wieso?«
»Nun, Sie haben mir mit Ihren Briefen und unseren vorherigen Gesprächen schon eine Menge Stoff zum Verdauen geliefert. Ich dachte einfach, dass wir heute mal etwas Neues angehen. Es sei denn, Sie wollen mir noch etwas ganz Bestimmtes mitteilen.«
Jill lehnte sich mit skeptischer Miene zurück und zwirbelte die Spitzen ihrer Haare mit den Fingern. »Etwas Bestimmtes mitteilen ? Jetzt klingen Sie wie ein Psychiater.«
»Ihre Briefe sind ziemlich bemerkenswert«, sagte Charley, die die Feindseligkeit spürte und versuchte, die Situation unter Kontrolle zu halten. (Dr. Norman hatte betont, dass es wichtig sei, Jill nie die Oberhand zu lassen. »Wenn jemand irgendwen austrickst, sollten Sie es sein«, hatte er gesagt.) »Sie haben ein Händchen fürs Schreiben«, führte Charley aus. »Richtiges Talent.«
Jill brach spontan in ein breites Lächeln aus. »Finden Sie?«
»Auf jeden Fall. Diese Briefe sagen mir sehr viel über Sie.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel, dass Sie eine sehr intelligente und talentierte junge Frau sind«, borgte Charley sich die Worte ihrer Mutter und fragte sich, ob sie ähnlich unaufrichtig gemeint gewesen waren. »Und dass Sie in allem erfolgreich sein können, was Sie ernsthaft angehen.«
»Ehrlich? Das sagen Sie nicht bloß so?«
Charley schüttelte den Kopf.
»Es ist wahr.«
»Das ist sehr nett. Es bedeutet mir wirklich sehr viel, dass Sie das denken.«
Wozu waren Mütter gut, dachte Charley. »Sie haben Tammy Barnet und Ihre Mutter also in dem Park kennen gelernt«, wiederholte sie.
»Tammy wollte auf die Schaukel, auf der ich saß. Sie sagte, es wäre ihre Lieblingsschaukel, weil sie höher war als die anderen. Ich sagte okay und bot sogar an, sie anzuschubsen.
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