Die Kaufmannstochter von Lübeck
Gebete Gottes so ernst nimmt und auf vergleichbar ernsthafte Weise nach dem Wort des Herrn zu leben versucht wie du.« Grete hob die Schultern und seufzte. »Du hast anscheinend die nötige Kraft dazu, das zu tun.«
»Diese Kraft hat jeder, so schwach er auch zu sein scheint«, behauptete Johanna.
»Nein, Johanna. Die meisten Menschen sind innerlich schwach, und selbst die Androhung, dass sie dafür in die Hölle kommen, kann sie nicht davon abhalten, ihren Leidenschaften zu folgen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Dich hat die Pest nicht umgebracht, obwohl du von dieser Seuche befallen warst. So hast du ein Wunder erfahren, das dich für immer Gott gehorsam machen wird.«
»Ja, du hast recht.«
»Aber für die meisten Menschen trifft das nicht zu. Die Wunder werden anscheinend sehr ungerecht unter den Gläubigen verteilt. Aber das werden wir wohl so hinnehmen müssen, wie es ist.«
»Wäre es dir vielleicht lieber gewesen, ich hätte die Gnade dieses Wunders nicht erfahren und wäre von der Pest dahingerafft worden?«
Johanna hatte mit glasklarer Stimme gesprochen.
»Nein, natürlich nicht.«
»Ich hatte fast den Eindruck.«
»Wie kannst du so etwas sagen!«
»Hör zu, ich neide niemandem etwas. Unsere Leben werden sehr unterschiedlich verlaufen, aber es ist der Herr, der das für uns so gewählt hat.«
»Du hast recht«, stimmte Grete zu. »Ich glaube, ich habe ziemlich töricht dahergeredet.«
»Das haben wir wohl beide.« Johanna zwang sich zu einem Lächeln, obwohl ihr die Vorwürfe ihrer Schwester wirklich nahegegangen und sie im tiefsten Innern angefasst hatten. »Du kannst mir glauben, ich wünsche dir alles Glück dieser Welt, wenn du mit Pieter van Brugsma nach Antwerpen gehst.«
»Danke«, murmelte Grete.
Die beiden Schwestern waren inzwischen stehen geblieben, während Moritz von Dören und Bruder Emmerhart weitergegangen waren und sich intensiv über das Für und Wider unterhielten, Meister Andrea mit nach Lübeck und teuer in Dienst zu nehmen. »Rate unserem Vater zu, diesen falschen italienischen Süßkrämer mit nach Lübeck zu nehmen«, sagte Grete.
»Jemand, der schon betrügt, wenn er seinen Namen sagt?«, lächelte Johanna.
»Aber die Sinne lassen sich nicht betrügen, Johanna. Und ganz gleich, wie er das hinbekommt und ob er dafür mit dem Teufel im Bunde ist: Sein Marzipan schmeckt einfach himmlisch. Man wird es ihm aus der Hand reißen, und man wird jeden Preis dafür verlangen können.« Sie zuckte mit den Schultern. »Auf dich wird er hören, denn dich hält er für klug – mich nur für gut zu verheiraten.«
»Worauf wartet ihr?«, fragte Moritz von Dören. »Ihr wisst doch: Wer in der Stadt stehen bleibt, zieht nur die Aufmerksamkeit der Bettler auf sich!«
N euntes K apitel
Eine Sünde im Dom
Am frühen Abend ging Johanna zum Dom. Sie trug einen schlichten Umhang, dessen Kapuze einen Schatten auf ihr Antlitz warf. Ihr Herz klopfte, und ihre Gedanken waren keineswegs so sehr bei ihren täglichen Dankgebeten, wie es sich geziemt hätte.
Johanna betrat das ehrfurchtgebietende Gewölbe. Ihre Schritte hallten darin wider. Gesänge eines Mönchschores erfüllten den Dom. Du tust etwas Falsches , dachte sie und ließ suchend den Blick schweifen. Frederik von Blekinge war nirgends zu sehen. Beinahe fühlte sie sich erleichtert. Sie murmelte ein kurzes Gebet, und dann stockte ihr der Atem. Im Schatten einer Säule sah sie ihn. Sein Blick traf sie; er schien sie bereits eine ganze Weile beobachtet zu haben, ohne dass sie ihn bemerkt hatte.
Johanna erwiderte seinen Blick und stand wie zur Salzsäule erstarrt da. Nichts wird sein wie zuvor, wenn du diesen Weg weitergehst, wurde ihr plötzlich klar. Aber da war etwas, was sie unwiderstehlich anzog. Etwas, das ihr keine andere Wahl ließ, als schließlich doch auf Frederik zuzugehen.
Der Mönchschor im Hintergrund wirkte wie eine Mahnung.
»Johanna«, sagte Frederik, und ihr eigener Name hatte plötzlich einen ganz eigenartigen Klang, da er ihn mit seiner samtenen, dunklen Stimme auf eine Weise aussprach, die sie tief berührte.
Sie wollte etwas sagen, aber ein dicker Kloß steckte ihr im Hals, und ihre Zunge schien wie gelähmt zu sein. Sie öffnete nur halb den Mund. Er näherte sich einen Schritt, fasste sie bei den Schultern, und im nächsten Moment spürte sie seine Lippen auf den ihren.
Atemlos wich sie vor ihm zurück.
»Ich …«
»Sag jetzt nicht, dass du nicht deswegen hierhergekommen bist,
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