Die Kaufmannstochter von Lübeck
einem Todesurteil gleichkam. Sie sah das entsetzte Gesicht ihres Vaters vor sich und das ihrer Mutter, die bereits schwer von der Krankheit gezeichnet war. Und sie blickte auf die Schnabelmaske des Pestdoktors, von dem sie keine Hilfe erwarten konnte. Bruder Emmerhart hätte ihr schon vor Tagen die Letzte Ölung geben sollen, aber der Priester war nicht auffindbar gewesen.
Ich darf nicht sterben, ohne die Letzte Ölung erhalten zu haben! Dieser Gedanke beherrschte sie. Aber auch an den nachfolgenden Tagen war es Moritz von Dören nicht gelungen, einen geweihten Priester aufzutreiben, der das Sakrament hätte spenden können. Manche waren geflohen, so hieß es. Aber die allermeisten Priester hatten ihre Pflicht am Nächsten erfüllt, hatten unzählige Sterbende dabei berührt und waren schließlich selbst von der Krankheit dahingerafft worden.
Am Morgen schreckte Johanna schweißgebadet aus dem Schlaf, immer noch von der Angst erfüllt, vielleicht ohne Letzte Ölung ins Jenseits gehen zu müssen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Plötzlich spürte sie, dass jemand an ihre Schultern fasste.
»Johanna!«, rief eine Stimme wie aus weiter Ferne.
Es war nicht das erste Mal, dass Johanna von diesem Alptraum geplagt wurde, und es dauerte dann selbst nach dem Erwachen einige Augenblicke, ehe sie begriff, dass all diese Schreckensbilder in ihrem Kopf nichts anderes als Bruchstücke einer furchtbaren Vergangenheit waren, die längst hinter ihr lag.
»Johanna!«
Es war die energische Stimme ihrer Schwester, die jetzt in ihr Bewusstsein drang und sie endgültig aus dem unbarmherzigen Griff des Alptraums löste.
»Dem Herrn sei Dank«, murmelte Johanna und begann gleich darauf, ein Vaterunser zu beten. Das hatte sie immer nach solchen bösen Träumen getan, und es hatte sie stets sehr beruhigt.
Für Grete waren die Alpträume ihrer Schwester nichts Ungewöhnliches. Eine Weile hatte Johanna ihrer Schwester von ihnen erzählt, aber Grete hatte schließlich nichts mehr davon hören wollen. Zu schrecklich erschienen ihr die wirren Geschichten und Bilder, die wie Botschaften aus der Hölle wirkten.
Und so waren sie übereingekommen, dass Grete ihre Schwester zwar weckte, wann immer diese sich unruhig hin und her warf und vielleicht sogar im Schlaf aufstöhnte und schrie, aber dass sie nie wieder über diese Träume sprechen würden.
Umso überraschter war Johanna, dass Grete dieses Mal von sich aus von ihnen sprach.
»Es heißt, Träume sind Zeichen«, sagte sie.
»Wie in der Geschichte von Joseph und seinen Brüdern.«
»Du kennst die Geschichten der Bibel besser als ich. Aber jedenfalls glaube ich nicht, dass es ein Zufall ist, dass dich der Alptraum ausgerechnet jetzt heimsucht.«
Johanna schluckte. Sie strich sich das wirre Haar aus den Augen. Ja, der Gedanke, dass dieser Traum ein Zeichen war, erschien ihr durchaus einleuchtend. Konnte es sein, dass er mit Frederik zusammenhing? Ließ der Herr ihr auf diese Weise vielleicht eine Warnung zukommen, den Weg auf gar keinen Fall zu verlassen, den sie vor langer Zeit eingeschlagen hatte?
Sei ehrlich zu dir, du hast bereits darüber nachgedacht, genau das zu tun, ging es ihr durch den Kopf. Frederiks so überzeugend wirkende Worte hallten noch in ihrem Kopf wider.
Ja, insgeheim hatte sie bereits nach ihrer ersten Begegnung mit Frederik von einem Leben an seiner Seite geträumt. Und dabei war es ihr ziemlich gleichgültig, wie die äußeren Umstände sein würden. Ein großzügiges Patrizierhaus oder die vermutlich bescheidene Exilresidenz der Familie von Blekinge – das spielte keine Rolle.
»Ich bin etwas verwirrt«, bekannte Johanna.
»Unser Vater hat schon gefragt, ob du fertig bist, wenn es heute zur Versammlung ins Rathaus geht«, erklärte Grete.
»Natürlich werde ich pünktlich sein«, versicherte Johanna.
»Du hast übrigens im Schlaf einen Namen gesagt.«
»So?«
Grete zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls glaube ich, dass es ein Name gewesen sein könnte. Es klang wie Frederik .«
Johanna erschrak. Sollte sie sich tatsächlich im Schlaf verraten haben?
Ich werde beichten müssen, dachte sie. Und zwar schon in nächster Zeit, denn so halte ich das nicht mehr lange aus. Es zerreißt mich sonst.
Grete wandte sich zur Tür. Und obwohl sie an den Beratungen im Rathaus nicht teilnehmen würde, war sie bereits fertig angekleidet und zurechtgemacht – zumindest so, wie das unter den bescheidenen Bedingungen in ihrer Herberge möglich war.
»Warte einen
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