Die Kinder des Saturn
Biest.
Irgendwann schaut Red morgens bei mir herein und sagt: »Oh, immer noch hier?« Sie scheucht mich hoch. »Los, raus jetzt! Ich betreibe doch kein Wohnheim!«
»Ich dachte, Sie wollten noch die Feinabstimmung …«
»Nee«, erwidert sie ohne ein Lächeln. »Während Sie schliefen, habe ich über Nacht die Klimaanlage auf minus einhundertzwanzig Grad Celsius heruntergedreht, ohne dass irgendein Schaden aufgetreten ist, also können Sie jetzt gehen.«
»Oh«, erwidere ich leicht bestürzt. »Also gut, vielen Dank.« Ich hole meinen Mantel und verlasse Reds Werkstatt – für immer, wie ich hoffe.
Zeit, mich an die Arbeit zu machen.
Zwei Tage später – inzwischen habe ich drei Lieferaufträge erledigt – erhalte ich den ersten relevanten Hinweis auf die Person, die Jeeves aus der Reserve locken möchte. (Selbstverständlich hatte ich bereits eine Liste von Verdächtigen erstellt, doch die älteste Regel in den beiden ältesten Gewerben der Welt lautet: Verlasse dich niemals auf Vermutungen. )
Größtenteils besteht meine Arbeit aus trivialen Vorgängen: Suche ungesehen den Treffpunkt A auf, spreche die Person B an, gebe dich als C zu erkennen, nimm die Ware D entgegen, sieh zu, dass dich niemand beobachtet, wenn du anschließend zum Treffpunkt E gehst, mache die Person F ausfindig und händige ihr die Ware aus. All das hat einen bestimmten Zeittakt, ähnelt einem Tanz auf leisen Sohlen und lässt meine Nerven vibrieren, während ich zwischen den Transportwegen hin und her springe, die
Unterwäsche und die ohne große Mühe veränderlichen körperlichen Merkmale wechsle, mich mit den Zielpersonen in Verbindung setze und gleich wieder aufbreche. Eigentlich tue ich nichts, das nicht Millionen anderer Kuriere ebenso gut erledigen könnten. Ich versuche lediglich, mich dabei so unauffällig zu verhalten, wie es eine Riesin, die den Durchschnittsbürger um eine halbe Körpergröße überragt, überhaupt vermag. Das heißt: Ich falle trotzdem auf.
Als ich das vierte Transportgut aus einer Kaschemme im unterirdischen Straßengewirr von Metropolis abhole – es ist ein verschlüsselter Seelenchip, welche Überraschung! -, lese ich mir die Lieferanweisungen durch, die auf einer Anschlagtafel mit örtlichen Kleinanzeigen haften. Und dabei läuft mir erstmals ein Schauer über den Rücken. Der Bestimmungsort liegt in Hellasport, der Stadt mit dem Kopfbahnhof im Hellasbecken. Genau das ist die Stadt, an die IHRE Ländereien unmittelbar angrenzen. Ich bin schon dort gewesen. Genauer gesagt: Juliette kennt die Stadt. Und die Lieferanweisungen? Sind noch unheimlicher.
Ich soll zum Hotel Riesling gehen, mir dort unter der Deckidentität Nummer vier ein Zimmer buchen und den Memorystick mit dem Seelenchip einer Verbindungsperson namens »Petruchio« übergeben. Ein Name, der mir zunächst nichts sagt, bis ich recherchiere. Sogleich stellen sich meine Nackenhärchen auf. Meine Güte! Die eigene Reaktion verblüfft mich. Kann man sich stellvertretend für jemand anderen verlieben? Plötzlich wird mir klar, dass ich diesen Petruchio aus völlig unprofessionellen Gründen gern sehen würde, und diese Erkenntnis ist mir noch viel unangenehmer als die schlimmstmögliche Antwort auf die Fragen, die ich mir hinsichtlich der Motive von Jeeves stelle. Bestimmt gibt es in diesem Spielchen viele Ebenen, die mir über den Horizont gehen, doch zumindest muss ich mich um meine Selbsterhaltung kümmern. Deshalb schleppe ich ja auch die Faustfeuerwaffe aus Schweizer Armeebeständen mit mir herum und sorge dafür, dass ich niemals zwei Nächte hintereinander im selben Zimmer schlafe.
Hellasport ist mehr als fünfhundert Kilometer entfernt, und ich liege noch immer einen ganzen Tag hinter dem Zeitplan. In diesem Fall ist die Auslieferung an ein bestimmtes Zeitfenster gebunden, wie ich dem Auftrag entnehme. Mir bleiben nur noch sechs Stunden. Vorher ist mir gar nicht aufgefallen, wie eng dieser Terminplan ist. Vor mich hin fluchend, umrunde ich zweimal den Straßenblock, um zu prüfen, ob mich jemand verfolgt, und nehme anschließend die Hochschwebebahn zum Bahnhof. Ich habe Glück: In knapp einer Stunde fährt ein Eilzug nach Hellasport ab. Nachdem ich mir eine Fahrkarte für die Zweite Klasse besorgt habe, schlendere ich in die Wartehalle, um beim Schalter für abgegebenes Reisegepäck meinen Koffer wieder abzuholen. Die Zweite Klasse benutzen vor allem respektable Freiberufler, die ihr Gepäck selbst tragen müssen und am Reiseziel
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