Die kleine Schwester
Ich hatte ihn ohne Perücke gesehen. Vielleicht sind das alles keine Beweise. Man hätte allerlei dagegen anführen können. Aber wozu die Mühe? Zwei Menschen sind getötet worden, vielleicht drei. Sie ging ein enormes Risiko ein. Warum?
Sie wollte das Bild. Dieses Bild war ein enormes Risiko wert. Noch mal - warum? Es sind nur zwei Leute, die an einem bestimmten Tag zusammen essen. An dem Tag, an dem Moe Stein auf der Franklin Avenue niedergeschossen wurde. An dem Tag, an dem ein gewisser Steelgrave im Gefängnis saß, weil die Bullen einen Tip bekamen, daß nach ihm gefahndet würde und er Weepy Moyer hieße. Das geht aus den Unterlagen hervor. Aber das Foto zeigt, daß er gar nicht im Gefängnis war. Und dadurch, daß es ihn an diesem besonderen Tag zeigt, beweist es, wer er ist. Und sie weiß das. Und er hat immer noch den Wohnungsschlüssel.«
Ich machte ein Pause, und wir betrachteten einander ausgiebig. Ich sagte:
»Sie wollen doch nicht unbedingt, daß die Polypen dieses Bild bekommen, oder? Sieg oder Platz oder Verloren: die würden sie kreuzigen. Und am Ende der ganzen Affäre würde es überhaupt nichts mehr ausmachen, ob Steelgrave Moyer ist, oder ob Moyer Stein ermordet hat oder ihn ermorden ließ, oder ob er nur zufällig an dem Tag mit einem Passierschein rauskam, an dem er ermordet wurde. Wenn er damit durchkäme, dann gäbe es immer genügend viele Leute, die glaubten, daß es Bestechung war. Und ihr würden sie gar nichts abnehmen. Sie wäre für die öffentliche Meinung eine Gangsterbraut. Für Ihre Branche wäre sie vollständig und endgültig erledigt.«
Ballou schwieg einen Moment und betrachtete mich ausdruckslos. »Und was ist jetzt mit Ihnen?" fragte er sanft.
»Das hängt zum großen Teil von Ihnen ab, Mr. Ballou.«
»Was wollen Sie denn eigentlich?« Seine Stimme war jetzt dünn und bitter.
»Genau das, was ich von ihr wollte und nicht bekommen konnte. Etwas, was mir ein eindeutiges Recht gibt, in ihrem Interesse zu arbeiten, und zwar so lange, bis es nach meiner Meinung nicht weitergeht.«
»Und zwar, indem Sie Indizien vorenthalten?« fragte er gespannt.
»Sofern es Indizien sind. Die Polypen können nichts rauskriegen, ohne daß Miss Weld mit hineingezogen wird. Vielleicht kann ich es. Sie würden sich diese Mühe gar nicht machen. Für sie ist es gar nicht so wichtig. Für mich schon.«
»Warum?«
»Sagen wir mal, es ist eben mein Beruf. Vielleicht habe ich noch andere Gründe, aber der genügt schon.«
»Wieviel verlangen Sie?«
»Gestern abend haben Sie es mir geschickt. Gestern habe ich es nicht annehmen wollen - jetzt würde ich es annehmen. Zusammen mit einem Brief mit Unterschrift, in dem ich beauftragt werde, einen Erpressungsversuch an einem Ihrer Kunden zu untersuchen.«
Ich erhob mich mit meinem leeren Glas, wanderte hinüber und stellte es auf den Schreibtisch. Als ich mich vorbeugte, hörte ich ein schwaches, sirrendes Geräusch. Ich trat hinter den Schreibtisch und zog rasch eine Schublade auf. Ein Drahtaufnahmegerät kam zum Vorschein, auf einem mit Scharnier befestigten Bord. Der Motor lief, und der dünne Draht bewegte sich gleichmäßig von der einen Spule zur anderen. Ich sah zu Ballou hinüber.
»Sie können es abstellen und die Aufnahme mitnehmen«, sagte er. »Sie werden es mir wohl nicht verdenken, daß ich es benutzt habe.«
Ich legte den Hebel um zum Rückspulen, und der Draht lief in der entgegengesetzten Richtung und wurde so schnell, daß ich ihn nicht mehr sehen konnte. Es gab eine Art von scharfem Klagelaut, wie zwei Tunten, die sich um ein Stück Seife raufen. Der Draht löste sich von der Spule, und der Apparat kam zur Ruhe. Ich nahm die Spule ab und versenkte sie in meine Tasche.
»Vielleicht haben Sie ja noch eine«, sagte ich. »Ich muß das Risiko eingeben.«
»Sie sind wohl ziemlich selbstsicher, was, Marlowe?«
»Ich wünschte, ich wär's.«
»Drücken Sie mal auf den Knopf am Ende des Schreibtischs, ja?«
Ich drückte ihn. Die schwarze Glastür öffnete sich, und ein dunkles Mädchen kam mit einem Stenografierblock herein.
Ballou fing an zu diktieren, ohne sie auch nur anzusehen.
»Brief an Mr. Philip Marlowe, mit seiner Adresse. Sehr geehrter Herr Marlowe: Hiermit werden Sie von unserer Agentur beauftragt, einen Erpressungsversuch an einem ihrer Klienten zu überprüfen, dessen Einzelheiten Ihnen mündlich mitgeteilt wurden. Ihr Honorar beträgt einhundert Dollar pro Tag, mit einem Vorschuß von fünfhundert Dollar, dessen
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