Die Lady mit dem Bogen
Bruder.«
»Und du bist …« Er schien erstaunt, und sie vermutete, dass er – für ihn eine Seltenheit – nicht das richtige Wort finden konnte. Sie und Saxon waren entschieden keine Freunde. So leicht sie Liebende hätten werden können, war Sir Godards Eindringen vielleicht ein Zeichen dafür, dass es Irrsinn war, wenn sie es wirklich wurden.
Sie brauchte keine Zeichen, um dies zu wissen. Sie hatte gesehen, wie unbeherrschte Leidenschaft sowohl Schmerz als auch Lust mit sich brachte. Ihren Vater hatte es nicht gekümmert, wie viele Menschen durch die Befriedigung seiner Lust in Mitleidenschaft gezogen worden waren.
Sie nahm Bogen und Köcher und lief aus dem Raum. Sie hasste es, wie ein verängstigtes Kind davonzulaufen, doch hatten die Erinnerungen sie wieder in das verstörte kleine Mädchen verwandelt, das nie wusste, wann den zornigen Worten des Vaters ein Ausbruch folgen würde, und er mit Gegenständen um sich werfen und Geschirr zerbrechen würde.
Regen strömte an ihr herunter und durchnässte sie nach wenigen Schritten. Sie hielt mitten auf dem Hof inne und ließ das Unwetter um sich herum toben. Die Blitze würden nachlassen. Der Donner würde sich wieder in die Wolken zurückziehen. Der Regen würde aufhören.
Die schmerzlichen Erinnerungen würden nie vergehen.
»Mallory?«
Auf Saxons Frage hin drehte sie sich um. Er war so nass wie sie. Seine Kleidung klebte an ihm und ließ jede Sehne seiner Arme und die Brustmuskeln hervortreten. Mehr denn je sah er nicht wie ein Troubadour aus, und mehr denn je wollte sie ihre Pflichten vergessen, um alle Wonnen auszukosten, die es gemeinsam zu entdecken galt.
Mehr denn je wusste sie freilich, dass sie eine Närrin gewesen wäre, sich ihrem Verlangen hinzugeben.
»Dein Bruder muss mit dir sprechen«, sagte sie kaum hörbar. Sie wich einen Schritt zurück, dann noch einen. Berührte er sie, war zu bezweifeln, ob sie widerstehen konnte.
»Mallory …«
»Ich muss an der Seite der Königin sein.« Mit jedem Wort wich sie einen Schritt zurück. »Ich bin schon zu lange fort.«
»Mallory …« Er verstummte und ging zurück zu Sir Godard, der sie von der Tür aus beobachtete.
Saxon blickte zurück, als er seine Hand auf die Tür legte, um sie zu schließen. Sie stand gelassen im Regen und begegnete seinem Blick. Als er die Tür schloss und sie in die entgegengesetzte Richtung ging, sagte sie sich, dass sie froh sein sollte, weil sie beide zur Vernunft gekommen waren.
Vielleicht hätte sie froh sein sollen, doch war ihr so elend zumute wie auf der Burg ihres Vaters. So elend, wie sie sich geschworen hatte, sich niemals wieder zu fühlen.
kapitel 11
S axon hörte sich Godards Lamento an, während sie eine der engen Straßen Poitiers hinter sich brachten. Sein Bruder hatte den Palast der Königin gründlich satt. Er wollte schleunigst fort. Und er drängte Saxon, Poitiers mit ihm gemeinsam zu verlassen.
Saxon, der eine Pfütze vor der kleinen Kirche von Saint Jean unweit des Palastes mit einem großen Schritt überwand, sagte nichts dazu. Er würde Godard nicht überreden, auf seinen Rat zu hören. Godard Fitz-Juste benahm sich gerade so, als wäre Saxon sein Page, den er herumkommandieren konnte. Warum auch nicht? Mit Ausnahme seines Erben hatte ihr Vater seine zahlreiche Nachkommenschaft ignoriert. Während Godard nichts falsch machen konnte, konnten alle anderen nichts richtig machen und waren der Aufmerksamkeit ihres Vaters nicht wert.
Doch durfte er Godard nicht das Verhalten ihres Vaters vorwerfen, so wie Mallory von ihrem Groll gegen den Vater, der sie stets als Enttäuschung abgetan hatte, ablassen musste. Wenn de Saint-Sebastian gewusst hätte, was seine Tochter jetzt machte … Nein, das war unwichtig. Es war für beide Zeit, sich auf das zu konzentrieren, was sie nach Poitiers geführt hatte.
Er ließ Godard weiterzetern, während sie an dem Bau vorübergingen, der fast so alt war wie die von den römischen Invasoren vor einem Jahrtausend errichteten Mauern. »Du ignorierst die Wahrheit«, sagte sein Bruder. »Du kannst dich auf deine Aufgabe nicht mehr konzentrieren. Sie hat dich verhext.«
»Sie hat nichts dergleichen getan«, erwiderte er, wobei er sich fragte, wie oft er sich würde wiederholen müssen, bis Godard ihm zuhörte. »Sie ist nur eine Komplikation, mit der ich nicht rechnete.«
»Das hättest du aber tun sollen.«
»Wie hätte ich damit rechnen sollen, in Poitiers eine Frau ihres Formats anzutreffen?«
Godard ließ
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