Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
sie sich danach sehnte, bei Edmund zu sein.
Konnte sie auf eine Zukunft mit Daniel verzichten, nur um die Stiefmutter ihres eigenen Sohnes zu werden?
Doch die Alternative schien ihr noch schwieriger, denn Mr Harris abzuweisen bedeutete, Edmund ein zweites Mal aufzugeben.
36
Oh du armer, kleiner Schmetterling, an so viele Fesseln gebunden,
die dich hindern zu fliegen, wohin du willst!
Hab' Erbarmen mit ihr, mein Gott … damit sie sich ihre
Wünsche erfüllen kann, dir zum Ruhm und zur Ehre.
Hl. Theresa von Avila
Die Zeit verging schnell, wie sie es immer tut.
Daniel Taylor arbeitete allein in seinem Garten in Doddington und dachte dabei wieder einmal zurück an jenen Tag vor fünfzehn Jahren, als Charles Harris in sein Londoner Stadthaus gekommen war und sein Leben für immer verändert hatte.
Daniel hatte sehr wohl um Charlottes langjährige Neigung für Harris gewusst und er wusste auch, wie sehr sie sich danach sehnte, wieder mit ihrem Sohn vereint zu sein. Geschlagen und zutiefst verzweifelt hatte er darüber nachgegrübelt, wen von ihnen beiden Charlotte wohl wählen würde. Er liebte sie über alles und wollte, dass sie so glücklich wurde, wie sie es verdiente, deshalb hatte er die beiden allein gelassen. Er selbst verbrachte den Tag im Manor House, benutzte abends sein Bett im Obergeschoss, wenn er auch kaum Ruhe fand, weil er dachte, dass seine Abwesenheit Charlotte die Entscheidung leichter machen würde – und natürlich, weil er hoffte, den Schmerz so besser ertragen zu können. Er hatte eine Suchanzeige nach einer neuen Gouvernante in die Zeitung gesetzt; bis er jemanden fand, konnte Marie diese Aufgabe übernehmen. Und er hatte an Dr. Webb geschrieben und zugesagt, dass er seine Praxis übernehmen würde. Dabei war er sich darüber im Klaren, dass er der Familie Harris in Doddington hin und wieder begegnen würde, doch da er annahm, dass Charles Harris weiterhin die Hälfte seiner Zeit in London verbringen würde, glaubte er nicht, dass er allzu oft damit rechnen musste. Er wollte London mit all den schmerzlichen Erinnerungen, die es barg, endgültig den Rücken kehren. Das Manor House konnte er unbesorgt in den fähigen Händen von Thomas und seinem guten, verständnisvollen Vater lassen.
Plötzlich störten ihn Stimmen aus seinen Erinnerungen auf. Er blickte um sich und sah eine Gruppe Doddingtoner Schulkinder über den nahegelegenen Rasen rennen. Sie spielten mit einem Ball, den sie einander zukickten. Er konnte nur hoffen, dass sie nicht seine kostbaren Pflanzen zertrampeln und auch seinen Rasen nicht ruinieren würden. Die meisten der Kinder kannte er, viele davon sogar mit Namen. Bei den vielen Kindern hier im Dorf hatte er in seiner Praxis alle Hände voll zu tun.
Er kniete gerade neben einer Seidenblume auf dem feuchten Boden und suchte jedes Blatt einzeln ab, als der Ball über die niedrige Gartenmauer flog und in einer Staubwolke neben seiner Ischiaskresse landete. Ein Mädchen – jene Kleine, die er von allen Kindern im Dorf am allerliebsten mochte – hüpfte über die Mauer und machte sich auf die Suche nach dem Ball. Während er sie beobachtete, musste er unwillkürlich an Charlotte denken, daran, wie sie wohl als Kind gewesen war.
»Bei der Ischiaskresse, Lucy«, sagte er und wandte sich wieder der Insektenlarve zu, die er gerade entdeckt hatte.
»Der was?«, fragte sie und beugte sich suchend vor.
»Bei der Schleifenblume. Da drüben.« Er deutete auf die kleine, buschige Pflanze mit den dicken weißen Blütendolden.
» Voilà! « Triumphierend hielt das Mädchen den Ball hoch und warf ihn dann mit weitem Schwung über die Mauer zurück zu ihren Freunden. Doch statt selbst hinterherzuklettern, kam sie zu ihm und kauerte sich neben ihm nieder.
»Was machst du da?«, fragte sie.
»Ich untersuche diese Puppe.« Er sah sie an. »Willst du denn nicht wieder zu deinen Freunden zurückgehen?«
Sie zuckte die Achseln. »Eigentlich nicht.« Sie kniete sich neben ihn vor die Seidenblumen-Kolonie.
Jetzt, von Nahem, erinnerte Lucy ihn ein wenig an Anne, als sie in Lucys Alter war, doch Anne war längst erwachsen.
»Du weißt Bescheid über Seidenblumen, oder?«, fragte er.
»Ich weiß, dass Mr Jarvis wünscht, du würdest sie aus deinem Garten ausreißen.«
»Das liegt nur daran, dass er nicht weiß, wie wichtig die Seidenblumen sind. Sie helfen nicht nur gegen viele Beschwerden, sondern darüber hinaus legt der Monarchfalter seine Eier hinein, weil die Seidenblume die einzige
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