Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
Außenwände des Anbaus hatte Guido Monteverdi mit ähnlichem Aufwand al fresco bemalt, doch auf dem Putz waren keine Tiere oder Fabelwesen zu sehen. Nicht einmal Menschen zierten die Wände, so wie es bei den anderen Fresken an den Häusern entlang des Kanals eigentlich üblich war.
Der Anbau war mit Landschaften bemalt, die das Auge des Betrachters auf verblüffende Weise täuschten. Kam man im Boot um die Kanalbiegung, schien der Wasserlauf sich dort, wo in Wahrheit das Haus war, geradewegs fortzusetzen, doch nicht einfach, indem er sich zwischen Gebäudefronten hindurchwand wie ein normaler Kanal, sondern er schien unter einem verzauberten Gewölbe aus Rosenranken weiterzufließen. Die Rosen wirkten so prachtvoll und lebensecht, dass man ihren Duft förmlich zu riechen meinte, und die Biegungen und Verstrebungen der dornenbewehrten Äste waren so täuschend natürlich, dass jeder, der darauf zuruderte, davon überzeugt war, gleich mit seinem Boot in diesem Märchengarten zu verschwinden. Dieser Eindruck wurde noch durch die aufgemalten Stuckelemente und die leuchtenden Fenster verstärkt, die den Hintergrund des Rosenfreskos bildeten und eine kostbare Marmorfassade vorgaukelten.
Dass dort nur bunter Putz war, bemerkte man erst, wenn man schon fast daran vorbeigefahren war.
Laura hatte ihre Freude daran, auf der Fondamenta zu stehen und den Leuten ins Gesicht zu schauen, wenn sie in ihren Gondeln oder auf ihren Lastbooten näher kamen und das Haus anstarrten. Sogar die Gondolieri , die schon dutzendfach hier vorbeigerudert waren, bedachten das Kunstwerk Guido Monteverdis immer wieder mit bewundernden und ungläubigen Blicken.
Im Inneren des Anbaus waren die Wände ebenfalls bemalt, jeder Raum anders. Es gab vier Räume, zwei auf Höhe der Wasserlinie und zwei weitere im Obergeschoss. Die Zimmer waren klein und vor allem sehr schmal; man konnte sie mit drei großen Schritten der Breite nach durchqueren, doch wenn man eines davon betrat, schien man zu glauben, den Prunksaal eines Königsschlosses vor sich zu haben. Die Illusion von weit entfernten Wänden oder Laubengängen hinter Blumenstöcken und großflächiger blauer Himmel über einer Sommerwiese erzeugte den Eindruck unendlicher Weite.
In Lauras Zimmer hatte ihr Vater an die Decke ebenfalls einen Himmel gemalt, der von so strahlender Bläue war, dass sie früher manchmal die Augen geschlossen hatte, weil sie davon überzeugt war, das Gemälde würde sich in einen echten Himmel verwandeln, wenn sie es sich in ihrer Fantasie nur intensiv genug vorstellte. Eine der Wände in ihrem Zimmer war mit einem überlebensgroßen goldenen Löwen verziert, der mit majestätisch ausgebreiteten Schwingen direkt zum Sprung in den Himmel anzusetzen schien. Dabei schaute er den Betrachter aus seinen dunklen Augen an, als wolle er dazu einladen, auf seinem Rücken mitzufliegen.
Im Untergeschoss des Hauses befand sich an der Kanalseite die Küche und im hinteren Raum das Atelier ihres Vaters. Von dem winzigen Hof dahinter führte eine schmale, steile Treppe hinauf zur Schlafkammer ihrer Eltern, von der aus man in Lauras Zimmer gelangte. Laura liebte den Himmel und den Löwen in ihrem Zimmer, doch noch mehr liebte sie den Ausblick auf den Kanal. Sie konnte stundenlang aus dem offenen Fenster die vorbeiziehenden Boote und das Gewimmel auf der Fondamenta betrachten, oder sie schaute zu, wie sich auf dem Kirchplatz an der gegenüberliegenden Seite die Menschen zu Prozessionen versammelten.
Auch an diesem Tag hatte sich bereits am frühen Morgen wieder ein Zug gebildet, doch der Anlass war ersichtlich ein trauriger. Die gedeckte Kleidung und die bedrückte Haltung der Menschen zeigten, dass jemand aus der Contrada gestorben war. Der Verstorbene musste ein angesehener Bürger gewesen sein, denn unter den Trauernden gab es etliche Würdenträger.
Laura wandte ihre Blicke von den Menschen ab. Ihr war nicht danach, den Leichenzug zu betrachten, denn dadurch verdüsterten sich ihre Gedanken noch mehr. In den letzten Tagen schien eine dunkle Wolke über dem Kanal und dem Haus zu liegen, und obwohl die Sonne im Verlauf ihres Tagesbogens die ganze Welt mit ihrem strahlenden Licht erfüllte, wurde die Stimmung nicht besser. Der Gesang ihrer Mutter, der sonst immer für gute Laune sorgte, war schon seit Wochen nicht mehr zu hören.
Tags zuvor war die Hebamme hier gewesen, hatte ihre Mutter untersucht und sich mit den Worten Es kann stündlich kommen wieder verabschiedet. Trotz der
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