Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
verhallenden Glockenschlägen nach und schüttelte den Kopf, beide Hände um das Kästchen gekrampft. Sie blickte auf das von sanften Wellen gekräuselte Wasser des Kanals, sah das silbrige Blitzen vorbeihuschender Fische, die bei der nächsten Ebbe wieder ihren Weg zurück ins Meer finden würden. Ob hier oder dort, sie waren stets in dem ihnen von Gott zugedachten Element. Nur sie selbst fühlte sich verloren, herausgerissen aus einer Welt, in der die Zukunft im Ungewissen lag.
Valeria hatte gewartet, dass er zu ihr käme, zunächst eine Woche, dann eine weitere, doch er war nicht erschienen. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und machte sich im Schutze des dichten Schleiers, den zu tragen sie sich angewöhnt hatte, wenn sie aus dem Haus ging, auf den Weg. Wenn sie unterwegs war, dann nur gemeinsam mit ihrer Zofe sowie in Begleitung des schwer bewaffneten Leibwächters, ein Kreter, der Agnadello überlebt hatte und ohne den sie keinen Schritt mehr tat. Auch heute nahm sie die beiden mit.
Inzwischen hatte sie Informationen einholen lassen und wusste genau, wo Carlo sich aufhielt.
Auf dem Wege dorthin ließ sie in Gedanken die letzten Wochen vorüberziehen. Sie hatte Giacomo Cattaneo so nachhaltig aus ihrem Leben gestrichen, wie es nur irgend möglich war, und doch verging keine Nacht, in der sie nicht schweißgebadet aufwachte und sich vor ihm ängstigte – und sich gleichzeitig nach ihm sehnte. In solchen Momenten dachte sie daran, wie er sein konnte, wenn er es darauf anlegte. Wie liebevoll, einfühlsam und leidenschaftlich. Seine Ehrlichkeit in diesen Augenblicken war nicht gespielt gewesen, das war das Schlimmste daran. Sie hatte an ihn glauben wollen. Daran, dass er sich geändert habe. Dass er Carlo und ihr nie wieder ein Leid zufügen werde. Dass er ihr ein eigenes Leben lassen werde, mit einem Haus, über das sie gebieten, und Menschen, mit denen sie sich umgeben konnte.
Er hatte sich getreulich an alles gehalten, für eine erstaunlich lange Zeit. Bis zu jener Aschermittwochsnacht, als Carlo den Finger verloren hatte. Dass dieser Vorfall im Zusammenhang mit der Fehlgeburt stand, die sie nur wenige Wochen vorher erlitten hatte, war ihr damals nicht bewusst, aber Antonio hatte ihr vor seiner Abreise nach Mailand den unaussprechlichen Inhalt jenes Beutels gezeigt und ihr Dinge über Giacomo erzählt, die sie dazu gebracht hatten, sich zu erbrechen. Sie, die geglaubt hatte, längst alles gesehen zu haben, was es über sexuelle Perversionen zu wissen gab. Jetzt war sie frei, oder vielmehr, sie hätte es sein können, wäre sie nicht so sehr die Gefangene ihrer Erinnerungen und Gefühle gewesen.
Sie fand Carlo dort, wo sie ihn vermutet hatte, an jenem Strandstück unweit von Madonna dell’Orto. Vorher hatte sie sich vorgestellt, wie er dort bis zu den Oberschenkeln im Wasser stand, in äußerster Konzentration den Speer erhoben, den Fisch im Visier und bereit, beim leisesten Zucken zuzustoßen.
Doch zu ihrer Überraschung saß er in einem Boot, einem ziemlich morsch aussehenden Sàndolo, den er an Land gezogen hatte, um daran zu arbeiten. Er hockte rittlings über der Ruderbank und strich die Ritzen mit frischem Pech aus. Auf dem Bootssteg, der in einigen Schritten Entfernung ins Wasser ragte, lagen sauber ausgerollte Netze, und daneben stand im Schatten der Bootshütte ein kleines Fass voller frischer Schie , kleine Krabben, die in reichen Haushalten eine begehrte Delikatesse waren, sowie ein weiteres Fässchen mit Jacobsmuscheln. Er würde damit heute auf dem Markt viel Geld verdienen – zumindest gemessen an der Bedeutung, die das Wort viel früher für sie gehabt hatte.
Carlo war nackt bis auf einen Lendenschurz, und sogar durch den dichten Schleier vor ihrem Gesicht konnte sie sehen, wie seine Muskeln sich bewegten, während er sich an dem Boot zu schaffen machte. Seine Haut spannte sich schweißfeucht über seinen kräftigen Rücken, der im Sonnenlicht wie poliertes Ebenholz leuchtete. Er pfiff vor sich hin, einen Gassenhauer, der zum letzten Karneval aufgekommen war, ein freches Spottlied gegen die Mächte der Liga.
Sie ging weiter auf ihn zu, die Röcke gerafft und die Hand auf den Arm ihrer Zofe gestützt. Sie verfluchte die hochhackigen Zòccoli, die sie, dem Modediktat folgend, immer trug, wenn sie das Haus verließ. Früher war sie barfuß an diesen Strand gekommen, damit sie, wenn es die Not gebot, schnell weglaufen konnte. Heute ging es nicht an, sich unpassend gekleidet in der
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