Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
zurück zu der Stelle, wo die Männer lagerten. Den Käfig hatten sie in sicherer Entfernung abgestellt. Der Löwe war wach, wenn auch noch nicht wieder richtig bei Kräften. Das Futter, das er zuletzt erhalten hatte, war frei von Betäubungsmitteln gewesen, doch das Tier würde erst nach und nach wieder seinen alten Kampfgeist entwickeln. Als Carlo das vordere Gitter des Käfigs aufsperrte und zur Seite klappte, erhob sich der Löwe nur zögernd. Er hatte sich erst vor wenigen Stunden satt gefressen; die Störung schien ihm nicht zu behagen. Mit einem Stock stieß Carlo ihn durch die Käfigstäbe hindurch an, bis er endlich aus seinem Gefängnis hinaus in die Freiheit trottete. Der Löwe tat ein paar Schritte, den Kopf gesenkt, als könne er sich nicht entscheiden, ob er bereit sei, diesen Ort zu erkunden. Doch dann sog er witternd die Luft ein und wandte sich dem weiten Grasland zu, als spüre er, dass die Freiheit nur einen Sprung weit entfernt war. Langsam setzte sich das Tier in Bewegung.
Carlo wartete reglos, bis der Löwe in den Schatten der Nacht verschwunden war. Auch danach blieb er noch dort beim Käfig stehen, das Gesicht dem Mond zugewandt, und er fragte sich, ob es die weichende Anspannung war, die ihm die Tränen in die Augen trieb.
Nach einer Weile überkam ihn das Bedürfnis, zu laufen, und so streifte er den Burnus ab und tat ein paar rasche Schritte, um gleich darauf in Trab zu verfallen. Mit langen, fast schwerelosen Sätzen lief er durch die mondhelle Nacht. Das Gras strich an seinen nackten Beinen vorbei, und während er rannte, wünschte er sich, wie der Löwe wieder eins mit der Savanne werden zu können. Doch in ihm war ein Gefühl von Fremdheit, das mit jedem Atemzug stärker wurde. Er war nach Hause gekommen, aber sein Zuhause gab es nicht mehr.
Unvermittelt dachte er an den Brief, den er vor seinem Aufbruch von Laura erhalten hatte. Sie schrieb ihm aus Kreta, von dem Kind, das sie dort geboren hatte, ein Knabe, dem sie und Antonio den Namen eines Mannes gegeben hätten, der ihnen teuer war: Carlo.
Wie sonst sollte er heißen, wenn nicht wie der, den wir so lieben, hatte sie dazu geschrieben.
Es war merkwürdig; seinen wirklichen Namen hatte seit vielen Jahren niemand ausgesprochen, und manchmal schien es ihm, als sei er gänzlich bedeutungslos geworden. Carlo, das war der Name, den Valeria ihm zum Geschenk gemacht hatte. Der Name, der sich anfühlte, als gehörte er zu ihm.
Ihm ging auch das Bibelzitat nicht aus dem Sinn, das Laura in Form eines abgekürzten Hinweises in einem Postscriptum angefügt hatte. Die Stelle stammte aus einem Brief des Apostels Paulus an die Korinther. Carlo hatte sie nicht erst nachschlagen müssen, er kannte sie auswendig.
Wenn ich mit Menschen- und Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich weissagen könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnisse und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts ...
Er lief schneller, rannte schließlich mit voller Kraft, bis er meinte, die Lungen müssten ihm bersten und sein Herzschlag wie Donner hallen. Ihm war, als ob mit jedem Schritt, den er tat, Worte aus der Dunkelheit kamen und sein Inneres zerrissen.
Und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts ...
Schließlich konnte er nicht mehr weiter und blieb stehen. Seine Brust dehnte sich zu einem wilden Schrei, der in den Himmel aufstieg. Er schrie seine Verzweiflung hinaus, so laut er konnte, und irgendwo in der Ferne antwortete ihm das Brüllen des Löwen.
Mit beiden Beinen zugleich sprang er in der Art eines Kriegers hoch in die Luft, als könne er, wenn er nur weit genug hinaufkäme, Schwingen ausbreiten und davonfliegen. Dabei schrie er abermals, und nun war es, als löste sich seine Seele auf.
Doch mit diesem Schrei wurde sein Herz leicht und frei, und er spürte, wie alle Bedrängnis von ihm abfiel. Er lauschte in die Nacht, und dann schien es ihm, als könne er von weither die Antwort auf alle Fragen hören. Es war wie ein Flüstern im Wind, und es hatte den Klang von Verheißung.
Wieder fing er an zu laufen, doch diesmal war es anders, denn er konnte den Weg deutlich vor sich sehen. Er führte bis zum Horizont und dann immer weiter – heimwärts, in die Stadt des steinernen Löwen.
ENDE
NACHWORT DER AUTORIN
Die Lagune des Löwen ist mein zweiter großer historischer Roman nach Die Madonna von
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