Die Lanze des Herrn
sie aus den Grabkammern hervorgesprungen zu sein. Nachts gab es hier und da Licht in der Nekropole, das wie vereinzelte Glühwürmchen leuchtete, da einige der Bewohner in den umliegenden Vierteln für Pfennigbeträge im Monat bereit waren, ihren Stromzähler anzapfen zu lassen.
Irgendwann hielt der Archäologe schweißnass inne. Er hatte sein Hemd aufgeknöpft, und man sah seine glänzen de Brust. Das Medaillon, das er um den Hals trug, blitzte kurz auf. Vor einem Mausoleum, um das ringsherum Wäsche hing und dessen Türöffnung wie der Zugang zu einem expressionistisch dekorierten Geisterkabinett wirkte, überlegte er kurz, welchen Weg er einschlagen sollte. Er wollte sich gerade wieder in Gang setzen, als sie ihn erwischten.
Blut drang aus der Gegend seines Schlüsselbeins und aus seinem Unterleib.
Er fiel nach hinten.
Oh nein, Erbarmen, nicht das!
Er hatte keinen Laut gehört. Er sah, wie seine Füße krampfartig zuckten. Dann wurden seine Hände steif.
Anselmo kam zu spät. Er blickte in die Runde, um festzustellen, woher der Schuss gekommen war. In kürzester Zeit hatte sich eine Menschentraube um sie gebildet. Kinder piepsten wie Spatzen, doch auch sie hörte der Italiener nicht. Er kniete neben dem Archäologen und hob seinen Kopf an. Aus seiner Schulter und seinem Unterleib floss zähes Blut. Seine Lippen zitterten. Er versuchte, etwas zu sagen!
»Was?«, fragte Anselmo. »Was wollen Sie sagen? Wer hat Ihnen das angetan?«
Der Verletzte bekam einen Schluckauf, ein weiterer Blutschwall ergoss sich dabei aus seinem Mund. Sein Adamsapfel bewegte sich. Er legte eine zitternde Hand auf Anselmos Schulter und wollte sich festklammern. Verzweifelt versuchte er, den Kopf noch weiter anzuheben. Anselmo half ihm und legte sein Ohr an den Mund des Sterbenden. Da hörte er die Worte:
»Axus Mundi… Die Neue Maria…«
»Was? Was sagen Sie da?«
»Axus Mundi… Sie müssen sie finden…«
Dann fiel seine Hand schlaff neben seinen Körper.
Eilig durchsuchte Anselmo ihn. Er fand einen Pass und Kreditkarten. Beides nahm er an sich. Ein Bündel Geldscheine ließ er dem Toten. Aber was… Der Leibwächter musterte den Gegenstand, den er in Händen hielt. Ein USB-Stick, sagte er sich. Mit einem Stirnrunzeln ließ er ihn in seine Anzugtasche gleiten. Dann erhob er sich und sah sich um. Er wischte sich mit dem Hemdsärmel über das Gesicht. Noch immer kurzatmig von seinem langen Lauf, hörte er, wie er Luft holte und spürte, wie seine Brust sich senkte und hob.
»Axus Mundi«, sagte er mehrmals. Heftige Kopfschmerzen plagten ihn.
Axus Mundi. Die Neue Maria…
Der Kreis von Erwachsenen und Kindern um die Leiche wurde immer dichter.
Er musste wieder zu Judith.
Ein Schleier aus Dunkelheit und Staub fiel nun über die Totenstadt. Damien Seltzners Seele war unterwegs zum anderen Ufer.
♦♦♦
Frank Duncan suchte mit dem Feldstecher den Horizont ab. Er stand am Eingangstor des Zentrums und rauchte eine Zigarette. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Ihm war heiß in seinem Tarnanzug. Seit er sich am Abend zuvor den Bauch mit Houmous vollgeschlagen hatte, litt er an Magenkrämpfen. Das ägyptische Essen bekam ihm nicht. Er warf die Kippe weg. Vor ihm erstreckten sich dreihundert Meter staubiger Straße, dann verschwand das graue Band in einem Felsmassiv. Auf der anderen Seite lag der Djebel Musa, der Berg Mose. Auf dem Berg, dessen Gipfel jetzt im Hitzedunst flimmerte, hatte laut biblischer Überlieferung Mose die Gesetzestafeln von Gott erhalten. Man nannte den Felsen auch den heiligen Berg, denn dort lag der wahre Sinai der Heiligen Schrift.
Frank hatte bei seiner Ankunft in dieser Gegend die etwa dreitausend Stufen auf den Gipfel erklommen. Der Blick von oben war unvergesslich. Man konnte die gesamte Halbinsel Sinai bis zum Golf von Akaba überblicken. Im Süden erhob sich der Djebel Katharina. Auf der engen Plattform hatte man einst eine Kapelle erbaut, die Kaiser Justinian später abreißen und durch eine große Kirche ersetzen ließ, von der jedoch nur noch einige Mauerreste übrig waren. Daneben befanden sich die Überbleibsel einer kleinen Moschee. Sie war über der Grotte errichtet, die Mose angeblich als Zuflucht diente. Hier war Gott ihm erschienen, um den Bund mit seinem Volk zu schließen.
»Dann sprach Gott alle diese Worte: Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. Du sollst dir kein Gottesbild
Weitere Kostenlose Bücher