Die Legenden der Albae: Dunkle Pfade (German Edition)
Rumpf wieder gerammt. Ein lautes, wütendes Brüllen erklang.
Der Alb stürzte über die Brüstung aufs Deck und blieb benommen liegen, während sich das Schiff nach vorn neigte und über den Rand des Wasserstroms glitt.
Zu spät! Gleich werden wir fallen!
Dann geschah ein neuerliches Wunder: Das Gefährt sackte einige Schritt nach unten, bevor die magischen Zeichen auf dem Mast grell aufleuchteten. Anstatt zu stürzen, erhob sich das Schiff jedoch, schwebte über den Abgrund und trieb dabei noch höher!
Wir segeln … durch die Luft! Tirîgon gab es auf, über einen Ausweg nachzudenken. Den Sprung konnte er sich endgültig sparen. Er war zum Gefangenen geworden und musste abwarten, wohin seine Reise ohne einen Steuermann an Bord verlief.
Er sah hinab in das Loch, in das die Wassermassen schwappten und verschwanden, was jedoch an der Höhe des Meeresspiegels in der Höhle nichts änderte. Der Zustrom aus den Kaskaden glich den Verlust spielend aus.
Das Schiff trug ihn aufwärts, vorbei an den Fällen und durch glitzernde Gischtwolken hindurch.
»Hey! Spitzohr!«
Die Worte ließen den Alb herumfahren.
»Was ist denn los? Versuchst du, den Kahn auf Grund zu setzen, oder was treibst du? Brauchen wir noch lange?«, tönten die Fragen in unverschämtem Ton in sein Gehör. Sie drangen aus der aufgeschwungenen Tür, hinter der eine Treppen nach unten führte. Der Stimme nach handelte es sich um eine Barbarin, die mit einem grauenhaften Zungenschlag Albisch sprach. »Ich will nicht ewig warten, bis du mich vor deine Leute zerrst, damit ihr mich umbringen könnt!«
Also war der Elb doch nicht allein gewesen. Tirîgon zog sein Schwert und ging das Wagnis ein, durch die Tür zu treten. Wen hat er da unten wohl festgesetzt?
Er pirschte die Stiegen hinab, sog den Geruch von feuchtem Holz und Metall auf. Der Innenraum des Schiffs bestand aus einem langen, schmalen Gang, von dem Türen nach rechts und links abgingen.
»Was ist jetzt, Spitzohr?«, rief sie erneut und wechselte in die Sprache der Barbaren. »Hat es dir die Sprache verschlagen, oder gibst du mir keine Antwort mehr?«
Tirîgon hörte, dass die Frau am Ende des Ganges jenseits der spaltbreit geöffneten Tür saß, wo flackernder Lichtschein zu erkennen war. Da er die übrigen Kammern später noch prüfen konnte, eilte er geradeaus.
Er sah dünne graue Rauchschlieren aus dem Schlitz dringen, es roch nach verbranntem Weihrauch und getrockneten Kräutern, unter die sich eine weitere, süßlichere Nuance mischte, die nicht passen wollte. Lagerte er sein Vorratsfleisch falsch ein?
Tirîgon trat die Tür auf, richtete sein Schwert am langen Arm auf die Gestalt, die in einem Käfig stand und von der ein penetranter Gestank der Verwesung ausging; faulend und Übelkeit erregend, füllte er die komplette Kammer aus. Der Wohlgeruch des Weihrauchs kämpfte erfolglos dagegen an.
Die große, schlanke Barbarin machte erschrocken einen Schritt zurück. »Ein … Alb?«
Er sah die vernähten, schimmelnden Hautstücke, aus denen sie sich einen eng sitzenden Anzug geschneidert hatte. Narben im ausgemergelten Gesicht und die viel zu hohen Wangenknochen verrieten, dass sie selbst Hand an sich gelegt hatte, um ihr Äußeres zu verändern. Ihre spitzen Ohrenenden waren nicht minder falsch und mit dünnem Garn im eigenen Fleisch verankert, die Augen mit Farbe geschwärzt.
Das muss eine Obboona sein! Tirîgons Ekel stieg ins Unermessliche.
Seine Mutter hatte ihnen von diesen Verrückten erzählt, die in den Albae gottgleiche Wesen sahen und danach trachteten, ihnen so nahe wie möglich zu sein. In ihrer kranken Verehrung gingen sie so weit, Jagd auf die Albae zu machen, um ihre Haut zu rauben und sich daraus Gewänder zu schneidern, sich ihre Ohren anzunähen und das Fleisch sowie die Organe zu verzehren, um ihre Götter ganz in sich aufzunehmen.
Es … werden doch nicht die Häute meiner Geschwister sein? Tirîgons Blicke hefteten sich auf die Obboona. Nein. Sie sehen dafür zu zersetzt aus. Er hob das Schwert mit beiden Händen für einen senkrechten Stich, der die Barbarin durchbohren sollte. »Ich sollte dem Elb dankbar sein, dass er dich gefangen nahm, um über dich zu richten. Jetzt darf ich es sein, der dich tötet.«
Sie hob abwehrend die Hände. »Nein, nein! Du, mein Gott, verschone mich! Es sind nicht die Häute deinesgleichen, die ich trage! Wie könnte ich es wagen? Ich würde mein Leben geben, um deine Existenz zu bewahren!« Sie strich über die Ohren. »Es
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