Die Leidenschaft der Wölfe (German Edition)
lesen, Antoscha. Ich verspreche es.»
Der Sekretär betrachtete ihn einige Sekunden schweigend. «Darf ich fragen, wieso du mir derart Honig um den Bart schmierst, Semjon?», erkundigte er sich schließlich.
«Überhaupt nicht», erwiderte der junge Mann empört. «Aber ich wollte dich um etwas bitten. Wenn das Buch beendet ist, hättest du dann vielleicht Zeit, mir zu helfen?»
«Lass hören.» Antoscha lehnte sich auf seinem nicht sehr stabil aussehenden Stuhl zurück.
«Ich frage im Auftrag eines Freundes.»
«Eines weiblichen Freundes», ergänzte der Sekretär. «Bei euch Taruskins geht es doch eigentlich immer um weibliche Freunde.»
Semjon räusperte sich. «Das spielt keine Rolle. Aber ich muss herausfinden, wer der Besitzer einer bestimmten Liegenschaft ist.»
«Willst du etwa mit Grundstücken spekulieren?»
Semjon bewegte seinen Kopf auf eine Weise, die genau zwischen einem zustimmenden Nicken und verneinenden Schütteln lag.
«Du bist ein echter Londoner», fuhr der Sekretär fort. «Ich nehme an, du willst hier ein paar Wurzeln schlagen.»
«Das habe ich bereits getan, Antoscha. So wie wir alle.»
Der andere Mann seufzte wehmütig. «Ich selbst träume immer noch von St. Petersburg. Die Kanäle. Der Newski-Prospekt. Prachtvolle Architektur, wohin man nur schaut.»
«Du wirst dir die Nase abfrieren, wenn du dorthin zurückkehrst.» Semjon schlug mit der Hand auf den Tisch, um seinem Einwand mehr Nachdruck zu verleihen. «Als wenn London nicht schon kalt genug wäre.»
Als Semjon auffiel, dass Antoscha einen neugierigen Blick auf ebendiese Hand warf, unterzog er sie selbst einer genaueren Betrachtung. Sie war noch behaarter als beim Klopfen an die Tür, und die Finger wuchsen über dem zweiten Knöchel zusammen, sodass sie schon jetzt fast wie eine Pfote aussahen.
«Londoner oder nicht», sagte der Sekretär, «die Zeichen des Wolfes sind stärker in dir als bei allen anderen von uns.»
Semjon spürte eine gewisse Bestürzung in sich aufsteigen. «Ist es so auffällig?»
«Manchmal schon.» Antoscha studierte ihn noch etwas genauer. «Hast du bemerkt, dass die Herausbildung der Merkmale mit irgendetwas zusammenhängt? Vielleicht mit dem, was du isst? Oder deinem mentalen Zustand?»
Semjon zog es vor, nichts dergleichen zuzugeben. Seine gelegentlichen Spaziergänge über den Markt und der Hunger nach Fleisch. Seine Beschützerinstinkte, die dafür sorgten, dass sich sein Nackenfell aufstellte, wenn Angelica in unmittelbarer Gefahr geschwebt hatte – nichts von alledem sollte in Antoschas großem, dickem Buch Erwähnung finden. Selbst dann nicht, wenn der Sekretär ein Pseudonym für ihn benutzte.
«Mir geht es immer gleich», erwiderte Semjon vage. Diese Erwiderung musste für Antoscha einfach reichen.
«Gewiss», murmelte der Sekretär. «Aber wobei soll ich dir denn nun helfen?»
«Ach ja. Danke, dass du mich daran erinnerst. Es gibt da ein neues Baugebiet am Ende der …» Er nannte die Straße. «Aber es ist mir unmöglich, herauszufinden, wer das Ganze finanziert oder wem das Bauland eigentlich gehört. Die neuen Häuser können und werden gekauft und verkauft, aber das Land, auf dem sie stehen, wird von den Besitzern nur verpachtet. Ein seltsames Arrangement.»
«Aber durchaus nicht unüblich.»
Semjon bestätigte den Einwand des Sekretärs mit einem kurzen Nicken. «Aber das ist eine merkwürdig einsame Gegend, Antoscha.»
«Das ist doch kein Verbrechen.»
«Wenn Menschen gegen ihren Willen dorthin verschleppt und dort unter mysteriösen Umständen gefangen gehalten werden, dann ist das schon ein Verbrechen.»
«Irgendeine bestimmte Person? Jemand, den ich kenne?»
Semjon schüttelte entschieden den Kopf.
«Ich verstehe. Es ist höchste Diskretion gefordert et cetera. Du hast den Helden gespielt und dein schneidiges, attraktives Selbst bereits zu sehr ins Spiel gebracht, um unverdächtig zu wirken. Und jetzt brauchst du einen Niemand mit leicht zu vergessendem Gesicht, der die Sache weiterverfolgt. Mit anderen Worten, du brauchst mich.»
Semjon warf seinem Sekretär einen überraschten Blick zu. «So hätte ich es nicht formuliert, aber ich brauche wirklich Hilfe, Antoscha. Es scheint dir doch auch Spaß zu machen, muffige Bücher und Unterlagen zu durchforsten.»
Antoscha grinste ihn trocken an. «Ja, in der Tat.»
«Dann …»
Der Sekretär erhob sich, setzte seine Brille auf und rückte einige Gegenstände auf seinem Schreibtisch gerade. «Sag mir nur, wo ich
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