Die Leidenschaft der Wölfe (German Edition)
Zauber innewohnte, würden sie mir eine Reflexion dessen zeigen, was in den Stunden meiner Abwesenheit hier geschah. Sie würden mir das Zifferblatt der Uhr zeigen, und ich würde genau wissen, wann du gegangen und wann du zurückgekehrt bist.»
Sie zitterte. «Und wohnt diesen Fenstern ein Zauber inne?»
«Nein. Sie sind aus ganz einfachem Glas und reflektieren lediglich den augenblicklichen Moment. Das ist alles.»
Sein ruhiger Tonfall erfüllte sie mit großem Unbehagen.
«Aber es gibt Zauber in diesem Haus, Semjon. Davon hast du mir nichts erzählt, als du mich hierherbrachtest.»
«Eins nach dem anderen.» Seine Stimme war so tief, sie glich fast einem Knurren. Angelica schauderte. «Du hast dieses Zimmer verlassen, nicht wahr, Angelica?»
Sie nickte und nahm all ihren Mut zusammen, um ihm die Wahrheit zu sagen.
«Ich war so einsam, dass ich nach unten ging», hob sie an und zwang sich, so ruhig wie möglich zu sprechen. «Die Tür zum großen Saal war nur angelehnt, und ich … ich habe hineingeschaut.»
«Dann weißt du es jetzt also. Wir sind eine Bruderschaft von Wolfsmenschen.»
Sie schluckte schwer. «Du scheinst aber menschlicher zu sein als einige der anderen.»
«Manchmal. Das ist eine Eigenschaft, die nur schwer zu steuern ist.» Semjon fing an, mit langsamen Schritten im Raum umherzuwandern.
Angelica konnte nicht umhin, ihn genau zu studieren, um zu sehen, ob er Semjon, der Mensch, und nicht doch Semjon, der Wolf, war.
Seine körperliche Erscheinung war völlig menschlich. Doch es gab etwas, was sie nicht mit bloßem Auge sehen konnte: seine Seele.
«Wer bist du, Semjon?», flüsterte sie verzweifelt.
«Ich will es dir sagen.» Er zog einen schmalen Band aus einem Regal, das zu hoch für sie war, um heranzukommen – ein Buch, das sie bis zu dieser Minute noch nicht gesehen hatte. Dann setzte er sich zu ihr.
Der Text war vor langer Zeit in einem seltsamen und unbekannten Alphabet von einem Schreiber verfasst worden. Die großen Anfangsbuchstaben eines jeden Kapitels bestanden aus wunderschön kolorierten Miniaturbildern, die darauf hindeuteten, dass es sich um eine uralte Schrift handelte. Er las ihr daraus vor, aber Angelica schien es, als würde er gar nicht sprechen. Es war vielmehr, als würden die Worte von seinem Geist in ihren übergehen.
Geboren unter der blauen Sonne, die niemals untergeht, segelten die großen Eiswölfe des Nordens vor den niemals endenden Winden. Mit der Zeit vermischte sich ihr wildes Blut mit den Männern eines Krieger-Klans – den legendären Helden, die man als Roemi kennt …
Als er die Geschichte zu Ende erzählt und einige der mächtigen Kräfte erklärt hatte, die er besaß, hieß sie ihn aufzuhören. Tapfer legte sie ihm eine Hand auf den Arm.
«Ich verstehe, Semjon», war alles, was sie sagte. «Und ich liebe dich, wie du bist.»
Er schloss das alte Buch und wandte sich zu ihr um. «Gut. Du und ich müssen von nun an eins sein. Und das nicht nur im Bett. Es gibt im Rudel einige, die etwas gegen deine Anwesenheit hier haben. Und auch in der normalen Welt gibt es Menschen, die dir etwas zuleide tun könnten. Ich erhielt vorhin eine Nachricht von dem Mann namens St. Sin und habe versucht, persönlich mit ihm zu sprechen. Aber er blieb unsichtbar.»
«Selbst für deine Augen?»
Semjon verzog das Gesicht. «Auch ich kann getäuscht werden. Er stand auf der anderen Seite der Empore unter der Kuppel von St. Paul’s Cathedral.»
«Den Ort kenne ich. Ich war einmal dort, um der Abendandacht zu lauschen.»
«Bist du auch auf die Empore gestiegen?»
«Nein.»
«Das ist eine Art gigantischer Kreis mit einem Geländer. Hätte ich ihn umrundet, wäre St. Sin mir immer einen Schritt voraus geblieben.»
«Wie hast du dann …»
«Die Empore ist ein Flüstergewölbe. Ein Wunder in seiner Größe. Worte, die man auf der einen Seite spricht, wandern zum Ohr, als würde der Sprechende direkt neben dem Hörenden stehen. Das hat Sin zu seinem vollen Vorteil ausgenutzt.»
«War nicht auch noch ein anderer Mann beteiligt?»
«Ja. Das war Hinch. Aber er ist nur ein Handlanger.»
«Er war der Mann, der mir die vergiftete Rose gab. Und ich glaube, er war es auch, der mich vom Haus der Congreves an den Ort gebracht hat, wo du mich schließlich fandest.»
«Dann hast du ihn heute Abend an der Tür gesehen?»
Sie nickte ängstlich. «Ich wäre dir schon fast gefolgt, hatte aber zu viel Furcht vor ihm.»
«Mh. Es ist gut, dass du ausnahmsweise mal
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