Die Lennox-Falle - Roman
Schüsse verstummt waren und die ganze schreckliche Geschichte vorbei war, spürte ich, wie ich voller Panik Harrys Taschen durchwühlte, nur ein paar Zoll von den Überresten seines Schädels und seines völlig zerfetzten Gesichts entfernt und haßte mich dabei, als würde ich etwas Verabscheuungswürdiges tun. Das Seltsame war, ich wußte nicht, warum, ich wußte bloß, daß ich es tun mußte, obwohl es ihn auch nicht wieder lebendig machen würde.«
»Sie haben Ihren Bruder im Tod so beschützt, wie Sie ihn im Leben beschützt hätten«, sagte Karin. »Daran ist nichts Seltsames. Sie haben seinen Namen geschützt -«
»Ja, das habe ich mir, glaube ich, auch eingeredet«, fiel Lennox ihr ins Wort, »aber das taugt in Wirklichkeit nichts. Bei den heutigen Errungenschaften der Pathologie ist es nur eine Frage von
Stunden, bis seine Identität bekannt wäre … sofern man nicht seine Leiche entfernte und unter Verschluß stellte.«
»Nachdem Sie sich von der Botschaft den Namen des Arztes hatten geben lassen -«
»Den hat mir der Colonel gegeben«, erklärte Drew.
»Riefen Sie zurück und baten den Arzt um ein Telefon, von dem aus Sie ungestört sprechen konnten. Es war ein ziemlich langes Gespräch.«
»Wieder mit Witkowski. Er wußte, wen er ansprechen mußte und wie man solche Dinge anstellt.«
»Was für Dinge?«
»Wie man eine Leiche entfernt und sie isoliert hält.«
»Harry?«
»Ja. Nachdem wir das Gasthaus verlassen hatten, kann niemand in Erfahrung gebracht haben, wer er ist. Und da wurde es mir klar. Irgendwann zwischen dem Zeitpunkt, wo wir dort verschwanden und meinem zweiten Gespräch mit dem Colonel. Harry hat mir diesen Befehl erteilt, er hat mir gesagt, was zu tun ist.«
»Bitte drücken Sie sich klarer aus.«
»Ich soll er werden, seine Stelle einnehmen. Ich bin Harry Lennox.«
10
C olonel Stanley Witkowski zögerte nicht, auf Beziehungen zurückzugreifen, die er noch aus den Jahren des Kalten Krieges hatte. Er erreichte den stellvertretenden Chef der Pariser Sûreté, einen ehemaligen Nachrichtendienstoffizier, der die französische Garnison in Berlin geleitet hatte und mit dem Witkowski, der damals Major beim G-2 der US Army gewesen war, sich gelegentlich über gewisse Vorschriften hinweggesetzt und Informationen ausgetauscht hatte. Das Ergebnis des Gesprächs war, daß der Colonel nicht nur die Leiche Harry Lennox’, sondern auch die der beiden Attentäter unter seiner Kontrolle hatte. Alle drei wurden unter fiktiven Namen in der Leichenhalle an der Rue Fontenay untergebracht. Darüber hinaus wurde im Interesse beider Länder der ganze Vorgang mit dem Ziel, auf diese Weise weitere Informationen beschaffen zu können, zur Geheimsache erklärt.
Witkowski hatte nämlich sofort begriffen, was Drew Lennox nur zur Hälfte erkannt hatte. Wenn man die Leiche seines Bruders entfernte, würde das teilweise Konfusion erzeugen, aber im Verein mit der Nachrichtensperre machte das Verschwinden der Killer die Verwirrung total.
Der Mann mit der Stahlbrille ging nervös vor einem Fenster in einem Hotelzimmer in Orly auf und ab, wo er auf die Fünfzehn-Uhr-dreißig-Maschine nach München wartete; die ständigen Starts und Landungen erhöhten seine Gereiztheit und das gedämpfte Dröhnen der Düsenmotoren steigerte seine Unruhe noch. Er blickte immer wieder finster auf das Telefon und war wütend, daß es nicht klingelte und ihm die Nachricht übermittelte, die seine Rückkehr nach München rechtfertigen würde, weil seine Mission erfüllt war. Und daß der Einsatz scheitern konnte, war undenkbar. Er hatte mit der Pariser Sektion der Blitzkrieger Verbindung aufgenommen, den Elite-Killern der Bruderschaft. Spottdrossel war offiziell davon informiert worden,
daß in den vier Jahren, seit man sie auf ihre Posten gesandt hatte, nur drei ums Leben gekommen waren, wobei zwei den Selbstmord einem Verhör vorgezogen hatten und einer in Paris in Ausübung seiner Pflicht ums Leben gekommen war.
Weshalb klingelte also das Telefon nicht? Weshalb die Verzögerung? Der Einsatz hatte mit dem Eintreffen von Harry Lennox um 10.28 Uhr auf dem De-Gaulle-Flughafen und seiner darauffolgenden Abfahrt um 11.00 Uhr begonnen. Es war jetzt bereits 13.30 Uhr! Spottdrossel konnte das Warten nicht länger ertragen; er ging an das Telefon auf seinem Nachttisch und wählte die Nummer der Blitzkrieger.
»Lagerhäuser Avignon«, meldete sich eine Frauenstimme in französischer Sprache. »An wen darf ich Ihren Anruf
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