Die letzte Odyssee
jenseits der Sonne, und die
Goliath
würde auf ihrer nahezu geradlinigen Flugbahn dicht an der Venus vorbeikommen. Poole freute sich darauf, endlich mit bloßem Auge sehen zu können, ob der Schwesterplanet der Erde nach jahrhundertelangen Terraformierungsbemühungen dieser Beschreibung wenigstens etwas nähergekommen war.
Aus tausend Kilometern Höhe zog sich Star City mit seinen Montagetürmen, den Druckluftkuppeln, den Gerüsten mit halbfertigen Schiffen, den Antennen und vielen anderen rätselhaften Gebilden wie ein riesiges Metallband um den Äquator der Erde. Als die
Goliath
weiter sonnenwärts strebte, wurde es rasch kleiner, und bald konnte Poole erkennen, wie unfertig das Ganze noch war: es gab riesige, nur durch spinnwebfeine Gerüste überbrückte Lücken, die man wahrscheinlich nie vollends verkleiden würde.
Dann stürzten sie von der Ringebene weg. Auf der nördlichen Halbkugel herrschte tiefer Winter, Star Citys schmales Lichtrad war etwas mehr als zwanzig Grad zur Sonne geneigt. Poole konnte bereits den Amerika- und den Asienturm erkennen, die sich wie leuchtende Fäden durch den blaßblauen Schleier der Atmosphäre nach draußen zogen. Er hatte kaum gemerkt, wie lange die
Goliath
schon beschleunigte und schneller als jemals ein Komet aus dem interstellaren Raum auf die Sonne zuraste. Die Erde war fast voll, sie füllte sein Blickfeld immer noch aus, und nun war auch der Afrikaturm, seine Heimat in dem Leben, von dem er soeben – und, der Gedanke ließ sich nicht unterdrücken, vielleicht für immer – Abschied genommen hatte, in voller Länge zu sehen.
Aus fünfzigtausend Kilometern Entfernung zog sich Star City als schmale Ellipse um die Erde. Die gegenüberliegende Seite zeichnete sich, ein haarfeiner Lichtstreifen, kaum vor den Sternen ab, dennoch fand Poole es beeindruckend, daß die Menschheit dem Himmel nun doch ihren Stempel aufgedrückt hatte.
Dann fielen ihm die ungleich prächtigeren Ringe des Saturn ein. Die Weltraumingenieure hatten noch einen weiten Weg zurückzulegen, wenn sie mit den Wunderwerken der Natur konkurrieren wollten.
Oder, falls dies der bessere Ausdruck sein sollte, mit Deus.
15
An der Venus vorbei
Als Poole am nächsten Morgen erwachte, hatten sie die Venus bereits erreicht. Die riesige, grelle, immer noch wolkenverhüllte Planetensichel war freilich nicht das auffallendste Objekt am Himmel: Die
Goliath
trieb über einer endlosen Fläche aus zerknittertem Silberpapier, auf der sich das Sonnenlicht spiegelte und immer neue, funkelnde Muster erzeugte.
Poole mußte an einen Künstler seiner Zeit denken, der ganze Gebäude in Plastikbahnen verpackt hatte: Der Mann wäre begeistert gewesen, wenn er die Chance gehabt hätte, milliarden Tonnen von Eis in eine Glitzerhülle zu stecken! Dies war nämlich die einzige Möglichkeit, die Kometenkerne auf ihrer langen Reise sonnenwärts vor Verdunstung zu schützen.
»Du hast Glück, Frank«, hatte Chandler gesagt. »Ich habe das selbst noch nie miterlebt. Müßte ein tolles Schauspiel sein. Das Ding soll in etwas mehr als einer Stunde aufprallen. Wir haben ihm noch einen kleinen Schubs gegeben, damit es auch bestimmt an der richtigen Stelle ‘runterkommt. Wir wollen doch nicht, daß am Ende noch jemand verletzt wird.«
Poole sah ihn erstaunt an.
»Heißt das – daß auf der Venus bereits Menschen leben?«
»An die fünfzig verrückte Wissenschaftler in der Nähe des Südpols. Sie haben sich natürlich tief eingegraben, aber ein wenig durchschütteln werden wir sie vermutlich doch auch wenn sich die Einschlagstelle auf der anderen Seite des Planeten befindet. Genauer gesagt, der Punkt des Eintritts in die Atmosphäre – es wird nämlich noch Tage dauern, bis außer der Druckwelle etwas bis zur Oberfläche gelangt.«
Als sich der kosmische Eisberg in seiner blitzenden, funkelnden Schutzhülle in Richtung auf die Venus entfernte, wurde Poole jäh von einer schmerzlichen Erinnerung heimgesucht. Die Weihnachtsbäume seiner Kindheit mit ihren zarten, bunten Glaskugeln hatten ganz ähnlich ausgesehen. Der Vergleich war nicht völlig absurd: In vielen Familien auf der Erde war Weihnachten noch immer das Fest der Geschenke, und die
Goliath
brachte dieser Welt ein Geschenk von unschätzbarem Wert.
Das Radarbild der geschundenen Venuslandschaft – bizarre Vulkane, flache Kuppen und schmale, gewundene Schluchten füllte den Hauptbildschirm im Cockpit der
Goliath,
aber Poole verließ sich lieber auf seine eigenen Augen. Die
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