Die letzte Prophezeiung: Thriller (German Edition)
das, zumindest teilweise, kennen, was Ossius über den letzten Tag des Konzils von Nicäa berichtet.«
»Nicht so hastig«, bremste Aldobrandi ihn ein weiteres Mal. »Ich verlasse mich nicht auf das Gerede einer Frau aus dem Volk: Um billig davonzukommen, hätte sie den Inquisitoren jeden Unsinn gestanden, den sie ihr auch immer in den Mund gelegt hätten.«
Liam sprang auf, stützte die Hände auf den Tisch undbeugte sich zu ihm vor. »Was haben die Inquisitoren geschrieben?«, bellte er ihn an.
»Nichts Glaubwürdiges«, versuchte der Mönch sich herauszuwinden.
»Was haben sie geschrieben?«, hakte Liam nach.
»Nichts, wie ich sagte«, wiederholte der Dominikaner, zurückweichend.
»Was haben sie geschrieben?«, schrie Liam, völlig außer sich.
Aldobrandi schluckte, und angesichts der Erregung seines Freundes gab er nach: »Die Rede ist von einer Version der Apokalypse des Johannes, die von der uns bekannten abweicht.«
21
Ort: Klausurkloster der Benediktinerinnen Mater Ecclesiae
Weltzeit: Mittwoch, 24. Juni, 16.04 Uhr (GMT)
Ortszeit: 18.04 Uhr
Ich flog über dem Reich der Rus, und es war Frühling.
Unvermittelt sah ich einen Stern über der Erde aufgehen, und der Name dieser Erde war Artemisia.
Dann stürzte der Stern sofort wieder herab und verglühte, auf dem dritten Teil der Flüsse, und auf den Quellen.
Die Pinien verfärbten sich rot unter der Bitterkeit des Sternes.
Ich kostete von dem verbrannten Wasser, aber es war kein Wasser mehr, sondern es war Wermut geworden.
Und ich sah jeden dritten Menschen von dem Wasser trinken und sterben, denn das Wasser war Wermut geworden.
Es war die siebzehnte Nacht des Mondes von Nishan, im 5746sten Jahr seit der Erschaffung der Welt.
Mutter Valeria schlug das Heft der Novizin zu. Ihre Hände zitterten.
Das Mädchen kannte also den Text der Prophezeiung, wortwörtlich, ohne ihn jemals gesehen oder davon gehört zu haben. Es gab keinen Zweifel mehr: Sie war vorherbestimmt.
Mutter Valeria sank vor Ergriffenheit auf die Knie. Sie ließ das Heft auf das Strohlager fallen, fast als wollte sie sich davon befreien, dann bekreuzigte sie sich und begann zu beten.
Es verging viel Zeit, ehe sie sich wieder erhob. Das Gebetverschaffte ihr immer Erleichterung, gab ihr wieder Sicherheit. Ihre Hände hatten jetzt endlich aufgehört zu zittern. Sie hatte sich beruhigt und begann nachzudenken.
Sie erinnerte sich bestens an diesen Passus in der Rolle. Johannes erzählte darin, wie er über Tschernobyl flog, nach der Reaktorexplosion. Auch im offiziellen Text fand sich eine Spur dieser Prophezeiung. Apokalypse von Johannes, Kapitel 8, Vers 10 bis 11: »Und der dritte Engel blies seine Posaune; und es fiel ein großer Stern vom Himmel, der brannte wie eine Fackel und fiel auf den dritten Teil der Wasserströme und auf die Wasserquellen. Und der Name des Sterns heißt Wermut.« Sicher, die offizielle Version war gewollt kryptisch und führte auch das genaue Datum nicht an, aber das Wort »Wermut« tauchte dort ebenfalls auf. Und der Wermut wird aus der Artemisia gewonnen, besser bekannt als Beifuß, der in ukrainischer Sprache Tschernobyl heißt.
Mutter Valeria war entsetzt. Sie erinnerte sich noch an die Angst jener Zeit und an das Gefühl der Ohnmacht, während der Tag immer näher rückte. Sie hätte die Welt warnen wollen, oder zumindest die Russen, dass jenes Kraftwerk explodieren würde, dass die Hölle auf Erden losbrechen würde. Als es geschah, war sie seit wenigen Jahren Hüterin des Okzidents, und sie war erst einige wenige Male hinunter zum Schrein gegangen, aber das hatte genügt, um sich die ganze Prophezeiung genau einzuprägen.
Sie erinnerte sich noch, wie sie verzweifelt Molteni angerufen hatte, zwei Tage vor dem festgesetzten Tag, womit sie die Regel gebrochen hatte: »Meister, in zwei Tagen wird es eine Katastrophe geben!«
Die Stimme des Mannes hatte sie brüsk unterbrochen: »Ich will nichts weiter hören. Dem Meister steht es nicht zu, die Prophezeiung zu kennen, und den Hütern nicht, sie zu verbreiten, und das wisst Ihr ganz genau. Kommt zu Euch, Hüterin:Eure Aufgabe ist es, zu wahren und zu beschützen, nicht jedoch zu retten, denn dies steht allein unserem Herrn zu, wenn es sein Wille ist. Gehet nun hin in Frieden.« Und dann hatte er aufgelegt, ohne ein weiteres Wort.
An den folgenden Tagen hatte Mutter Valeria, da sie keine Meldungen fand, gehofft, die Katastrophe sei ausgeblieben. Vielleicht hatte sie Johannes’ Wort falsch
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